Nicht das Gedicht ist pervers, sondern die Art, wie es gelesen wird

Submitted by martinfrank on Wed, 09/11/2024 - 14:46

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Zensur und Selbstzensur

In der Schweiz funktioniert die Zensur so perfekt, dass die Idee Zensur selbst schon zensiert ist als Kennzeichen erfolgreicher Zensur. Zensierte Themen dürfen nur halbheitlich beschrieben werden, d.h. es sind je nach Thema ausschliesslich negative oder ausschliesslich positive Aussagen zulässig. Eine Diskussion von Vor- und Nachteilen wird quasi-automatisch unterdrückt. Die Liste der zensierten Themen ist zensiert. Wenn Ihnen zum Thema Zensur in der Schweiz nichts einfällt, verdienen Sie den Grossen QED Preis der Schweizer Zensur.

Dissoziation

Wir bilden uns ein, alle Menschen in unser "wir" einzuschliessen, doch Menschen wie das "ich" des Guatemala Gedichts werden quasi-automatisch ausgeschlossen. Ein Verdienst der US-inspirierten Schwulenbefreiungsbewegung ist, dass nun nicht mehr alle Schwulen zum "uns" der Schwulen gehören, sondern nur noch eine Auswahl von "Ernst und Röbi"s, die sich vom Durchschnittsbünzli ausschliesslich in der sexuellen Ausrichtung unterscheiden.

Wenn wir das "ich" des Guatemala Gedichts als Teil unseres "uns" akzeptieren, sehen wir, dass es sich um einen Menschen handelt, der einsam, einsam, einsam ist, der sich verachtet fühlt, weil er deprimiert ist, und deprimiert, weil er sich verachtet fühlt. Dass er schwul ist, hat er von mir geerbt, er könnte geradeso gut auf alte Xeroxkopierer fixiert sein, wesentlich ist, dass er weiss, dass er (und Sie, die Sie ihn auch ausschliessen, geben ihm recht) nicht Teil ihres "wir"s ist.

Dass das "ich" des Gedichts sich einen Drittweltescort bestellt, ist etwas, was jedes einzelne "ich" unseres "wir"s sich selbst ausnahmsweise zubilligt, doch nicht den übrigen "ich"s. Im Diskurs gibt es viele "ich, der Prostituierte", aber nur ganz wenige "ich, der Freier". Dass das "ich" des Gedichts sich "zumsäich" und weil er nicht davon ausgeht, dass die "ghäkte" Kreditkarten "ferhebet", den jüngsten Escort bestellt, mag zwar ein Tabubruch sein, doch für das "ich" des Gedichts ist es, als würde er sich Farbprospekte eines Lamborghinis bestellen, den er sich nicht leisten kann. Weder ist er an Kindern sexuell interessiert, noch ist er im Darknet an einem Ort unterwegs, wo mit Kindern gehandelt wird. Dass seine "zumsäich" Bestellung ausgeführt wird, merkt "ich" erst, als Alex schon auf dem Flugplatz wartet. Je realer "ich"s Situation wird, umso menschlicher verhält er sich: "ich rief einen Escort und es kam ein Mensch."

tschtourisch tschtourisch schtouri

Wie in der Schweiz üblich, gibt es kein literarisches Kunstwerk, das mit Punkten und Kommas wie ein Werk der bildenden Kunst zu respektieren ist. Wäre guatboi ein Bild, welches Komitee würde den Bildinhalt zu bekritteln wagen? Sie wären glücklich, ein heisses Bild hängen zu können. In der Schweiz gibt es nur die Story, den Inhalt, was sich übersetzen lässt. Alles ist ein Leserbrief, ein Diskussionsbeitrag, Facebook (siehe mein "Wie entsteht ein Epos?").

puz zään und
wix umpfere
nach
pisso schöön wi ali idjote
fesich sälbe sind im dunkle
undam moorge schtand uufmi teren idjote
hofnig fo häissem espresso un
tooscht undeme
komplizierteren
äplet odereme
DHL phäkli miteme
nöje tuul

ti apsolut lächelechi
truurigi
faszinazjoon fo sexy badhose fürne gäi
wo a AIDS ferrekt

Nicht das Gedicht ist pervers, sondern die Art, wie es gelesen wird

Es geht nicht darum, was dasteht, sondern was hinein- und hinausgelesen werden könnte.