Das Widder Wunder

Cevennes

Sophie Braga de Rouvois wartet, bis Marie-François den ersten Kaffee getrunken hat. Die Croissants hat sie selbst aufgebacken; der nächste Carrefour ist vierzig Kilometer entfernt. Eine Bäckerei gibt es in ihrem Dorf in den Cevennen seit Pompidou nicht mehr. "Madeleine hat gesagt, Antoine habe das letzte Wochenende auf dem Schloss der Souliers bei Versailles verbracht."

"Hat er dich vorher gefragt?"

"Reg dich nicht auf! Er hat gesagt, er gehe zu einem Freund."

Der Kaffee schmeckt Marie-François nicht mehr. Versteht Antoine nicht, dass es besser ist, arm und ehrlich zu sein, als sich von reichen Bürgern erniedrigen zu lassen?

"Schade, dass Antoine kein Mädchen ist"; die Gräfin denkt an die sechshundert Quadratmeter undichte Dachflächen ihres Schlosses, an die verstopften Abläufe, die hundertjährigen noch mit Stoff umwickelten Stromleitungen, die sechs und neun Ampère Sicherungen, die schmelzen, wenn Sophie mehr als zwei Infrarot-Strahler gleichzeitig einschaltet.

Wäre es nicht Februar und unter Null, würde Marie-François sein Gewehr nehmen und Fasane jagen gehen, "wir sollten Soulier anzeigen!"

"Wofür?"

"Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich."

"Sagte das Robespierre?"

Marie-François ist wütend und liebt Sophie, weil sie ihn wütend macht. Ohne sie wäre die Langeweile unerträglich.

"Können sie nicht heiraten?"

"Denkst du an Antoine oder an uns?"

"Adel heiratet Geld, Geld heiratet Adel, ist das nicht normal?" Ohne Blutauffrischungen geht jede Familie unter.

"Antoine ist kein Mädchen."

"Aber fast."

Am Abend sitzen sie mit Decken über den Knien im vier Meter hohen kalten Salon vor dem Fernseher, entschlossen, Antoine auf dem Altar des Gebäudeunterhaltes zu opfern. Das Feuer im prächtigen Kamin wärmt nicht einmal die Kaminumrandung. Was auf dem Bildschirm läuft, sehen sie nicht. Marie-François fürchtet, dass er für die Heirat den Pächter um Geld bitten muss. Ihre zweitausend Hektaren Wald sind Teil des Parc National des Cévennes, Ertrag nil, Wert pro memoria. Von ihren Weinbergen, wo die Trauben jedes Jahr an den Stöcken erfrieren, und ihrem von Missernten geplagten Ackerland wird der Pächter fett, der in einer ferme mit Zentralheizung und Swimming Pool lebt und dessen Sohn und Tochter beide Rechtsanwälte in Montpellier sind, während Antoine Tänzer werden will. Sophie träumt, dass Antoine und Philippe später hier leben würden. Philippe ist intelligent, hübsch, sportlich; er macht gerade seinen MBA. Seine Familie ist im letzten Jahrhundert mit Handtaschen reich geworden. Sophies zu früh gestorbener Bruder sah ihm ähnlich.

Ein paar Wochen später hat sich der Mix aus Geld, Namen, Antoines schlankem Körper und Philippes Lust gesetzt und nach Verhandlungen, die nie stattgefunden haben, wird das eindrückliche, aber vernachlässigte Schloss rasch und oberflächlich instand gesetzt.

Anfang Juni Hochzeit mit vielen Gästen. Catering Service in weissen Kitteln, schulterfreie Geigerin, aus dem Fernsehen bekannter Sänger, spastisch zappelnder DJ bis morgens um fünf. Der Pächter hat Champagner mit dem Namen ihres Schlosses auf Rechnung geliefert.

Eine Pariser Innenarchitektin hat für Philippe und Antoine aus einem Saal mit gemalter Decke, wertvollen boiseries und herrlichem Parkett, leider alles mit Wasserschäden, ein Schlafzimmer mit Himmelbett (indirekte Beleuchtung) und zwei nicht deckenhohen Badezimmern kreiert. Aus einer Stereoanlage haute gamme tönen leise sensual classics. Antoine, seiner Schönheit bewusst, legt sich nackt auf das Bett. Die Fenster stehen offen; es ist sechs Uhr morgens, ihre Hochzeitsnacht beginnt. Liebt Antoine Philippe? Antoine denkt an seine Grosstante Geneviève de Braga Rouvois, die einem dreissig Jahre älteren deuxième empire Adligen zum Frass vorgeworfen wurde, nachdem der Donjon aus dem zwölften Jahrhundert eingestürzt war; die Familie ging vor. Achthundert Jahre Vorfahren, davon sieben hundert Jahre ohne Bad oder Dusche; in hohen alten Schränken liegt zwei- und dreihundert Jahre altes silbernes Besteck und genügend Porzellan für Taufen, Hochzeiten, Begräbnisse; auf dem Estrich stehen fünfzig mit kaltem Wasser ausgespülte kostbare Compagnie des Indes Nachttöpfe. Antoine denkt an die hunderttausend Fasane, Rebhühner, Hasen, Hirsche, Wildschweine, Wölfe, Bären, die seine Vorfahren schossen und verzehrten, ohne sich je die Zähne zu putzen. Philippes Appartement mit Blick auf die Île Saint-Louis ist mehr wert als ihr Cevennen-Schloss, samt Land und Wald, aber weil Antoine seine Mutter und seinen Vater liebt und davon träumt, von Philippe genommen zu werden, ist er bereit sich opfern.

Als Philippe in einem bodenlangen nachtblauen Kimono mit dem silbernen Stempel der daimyo Familie Yoshinori aus seinem Badezimmer tritt und Antoine sieht, der nackt und in der Stellung, die Goldregen heisst, auf dem hohen Himmelbett mit weissen Frette Satin Leintüchern liegt, geniesst er den Augenblick, auf den Generationen von männlichen Souliers gewartet haben.

Philippe macht einen Schritt vorwärts; ein Lichtblitz blendet ihn und eine Stimme donnert, "Hände weg von dem Knaben!" Als Philippe wieder klar sehen kann, ist Antoine verschwunden und auf dem Bett schüttelt ein verwirrter Pyrenäen-Rotkopf-Widder seinen mächtigen Kopf mit gerollten Hörnern. Erschrocken flüchtet Philippe in sein Badezimmer, schlüpft in seine PSG-Shorts und ein PSG Qatar T-Shirt, springt in den Mercedes AMG G 65 und rast ins Chateau d'Ayres, um alles zu vergessen. Nach ein paar Stunden Schlaf liegt er am Pool und fragt sich, was wirklich ist, doch Antoine beantwortet seine Messages nicht. Für den Augenblick hat Philippe von Aristokraten die Schnauze voll. Der Sicherheitsmann seines Vaters verspricht Antoine, ihm zwei kleine Bulgaren mit einem weissen Pulver zu schicken, das alle Sorgen vertreibt.

In der zum Garten offenen feuchten und kalten Küche des Cevennen Schloss räumen Sophie und Marie-François die Unordnung auf, die der Catering Service hinterlassen hat. Philippes Mercedes steht nicht mehr auf dem Parkplatz. Haben Philippe und Antoine schon ihre Hochzeitsreise in den Pazifik angetreten? Was soll der prächtige Widder in ihrem Schlafzimmer? Der Widder will nicht die Treppe hinunterkommen, aber Landadlige sind den Umgang mit Schafen gewohnt. Ist er zahm? Sie füttern ihm in der Küche Krautstiele und Kohlrabi aus dem Garten. Erst als der Widder darauf besteht, im Fernsehen Ballett-Sendungen anzuschauen, und Philippes Vater sich weigert, die Rechnungen des Pächters für den Champagner mit dem Namen ihres Schlosses zu bezahlen, wird Antoines Eltern das Ausmass der Katastrophe klar. Hat Gott sie für ihre Sünden bestraft?

© 2025 Martin Frank