‘Götter sind furchtbar, wenn sie sich offenbaren' (Ilias 20.131).
April
Selten aber immerhin, kommt Peter nachts zu mir ins Arbeitszimmer und erzählt mir unabsichtlich Dinge, die ihm wichtig sind; die er Ursula nicht erzählen kann, weil sie nachfragt, darauf zurückkommt zu Zeiten, wenn Peter keine Antwort geben will, während mir reicht zuzuhören. Beginnt mit neunzehn nicht so viel Neues, das ein junger Mensch noch nicht kennt? Als ich neunzehn war, sprachen die Erwachsenen über alles, ausser was mich beschäftigte. Wie ein Blinder tastete ich mich in die neue Welt des Studiums, der Beziehungen und meiner Sexualität.
Ursula drängt Peter, dass er etwas mache; drängt mich, Peter unter Druck zu setzen. Peter zuzureden ist mir zuwider. Kann es nicht sein, dass er nur Zeit braucht, sich von seiner Kindheit zu verabschieden? Wie Kafka stellt Peter sich Fragen, um die Erwachsene einen Bogen machen. Peter will nicht enden wie Ursula und ich. Ursula ist entsetzt, dass mir das normaler als normal vorkommt. Nimmt mir die Depression die Kraft, mit Peter streng zu sein? Warum soll ich ihm das Leben schwer machen, wenn ich dankbar bin, dass er mit mir spricht? Ist nicht, dass er in das Reitzentrum geht, ein gutes Zeichen? Peter spricht von Animes und Mangas. Japan interessiert ihn. Ich frage ihn, "möchtest du Japanisch lernen?"
"Ich lerne schon mit YouTube."
Ich schlage ihm einen Sprachaufenthalt in Japan vor und merke gleich, dass das mehr ist, als er sich zutraut. Er sagt COMIKET und ich nehme mir vor, zu googeln, was COMIKET ist. Wenn ich mit meinem Laptop Probleme habe, hilft er mir, weil er weiss, dass Greise von Windows und Android nichts verstehen. Doch dann hockt Peter wieder eine Woche stumm in seinem Zimmer. Ist er ein hikikomori wie die japanischen Jungen, die nicht mehr aus ihrem Zimmer kommen? Die Mangas, die Peter mir zum Lesen gibt, handeln von Jungen seines Alters, die gegen Monster kämpfen. Ist Die Angst das Monster, gegen das sie kämpfen, gegen das auch Peter und ich kämpfen, jeder für sich allein?
Um mich abzulenken, beginne ich einen Artikel über griechische Inschriften in Palästina. Während ich mir Notizen mache, merke ich, dass mich nicht mehr interessiert, ob eine Inschrift von hundert vor oder siebzig nach Christus ist. Ich öffne News Seiten auf meinem Desktop, als gäbe es Nachrichten, die mich freuen, oder zumindest interessieren könnten. Kein Buch vermag mich zu halten; ich erwarte nichts Gutes mehr. Die Realität scheint mir eine schäbige Illusion. Die beständige Stimmungsmache, die aufgesetzte Lebendigkeit meiner Kollegen und Kolleginnen in der Universität ermüden mich.
Als ich in der Migros zu weinen beginne, verstehe ich, dass es Zeit ist, einen Psychiater zu konsultieren. Frau Doktor Weiss, die Psychiaterin, diagnostiziert eine Anpassungsdepression. Bin ich deprimiert, weil Peter erwachsen wird und ich ein alter Mann? Ist es meine abnehmende Vitalität? Hat es mit Sex zu tun? Oder mit dem Umfeld in der Universität, wo Altphilologie ein Auslaufmodell ist? Mit den Studenten, die keine Zukunft in diesem Fach sehen?
Ich versuche Frau Doktor Weiss zu überzeugen, dass ich eine endogene Depression habe. Sie sagt, einige ihrer Patienten seien Männer meines Alters, die seit der Schulzeit auf eine bessere Zukunft hingelebt hätten. Wenn weitere Karrierestufen nicht mehr in Aussicht stehen, verfielen sie in eine Depression. Ich fühle mich gelähmt und nehme Ritalin gegen die Schläfrigkeit, die die Antidepressiva auslösen.
Ursula hat Geduld mit mir. Wenn Peter mit mir spricht, fühle ich wie ihn erleichtert, dass wir nicht immer zu wissen brauchen, warum wir traurig sind.
Mai
Am 3. Mai ruft mich ein Rechtsanwalt Pillori aus Pisa an und sagt mir, dass Max, mein acht Jahre älterer Bruder, gestorben sei, Herzinfarkt beim Absitzen vom Ross. Ich stehe in einem der hallenden Gänge der Universität, auf dem Weg von Vorlesung zu Vorlesung. Wie lange habe ich meinen Bruder nicht gesehen? Auch wenn wir Distanz hielten, habe ich ihm gewünscht, glücklich zu sein. Sein Tod trifft mich wie der Tod meines Vaters: was gefroren war, ist plötzlich endgültig.
Ohne Verstimmung, ohne dass etwas Bestimmtes zwischen uns getreten wäre, hatten mein Bruder und ich wenig Kontakt. Wenn etwas dringend war, schickte er ein geschäftlich gehaltenes Mail. Ich drängte mich nicht auf. Er war schon als Junge wortkarg. Ich ging immer davon aus, dass mein Bruder schwul ist, aber wir sprachen nie darüber. Er hatte jüngere Freunde, meist Pfadfinder. Nach dem Studium arbeitete mein Bruder zwanzig Jahre in einer Bank. Dann zog er sich auf ein Gut in der Toskana zurück.
Max war von jung an grösser, schwerer, stärker als ich. Er schlug nicht meinen Eltern nach, sondern einem Onkel mütterlicherseits, Berufsmilitär, Herrenreiter, Landwirt im grossen Stil, der zum Befehlen geboren war, mit eiserner Hand führte und eine uneinige Familie hinterliess, die den Besitz, den er zusammengehalten hatte, in wenigen Jahren zerstreute. Als Knabe neigte mein Bruder zu Jähzorn und Gewalt, zum Glück stand der Altersunterschied zwischen uns. Er besuchte das Gymnasium in einem protestantischen Internat; ich sah ihn nur in den Ferien. Er hielt nicht viel von mir, dem Muttersöhnchen, das immer kuschte. Er behandelte mich, als wäre er ein zweiter Vater für mich. Ich fürchtete mich vor ihm.
Vor ein paar Jahren bat Max mich per Mail, im Falle seines Todes, oder bei Unfähigkeit, Unfall, schwerer Krankheit, mich um seinen Freund zu kümmern. Er setze mich in seinem Testament als Willensvollstrecker ein. Dass Max mit einem Freund zusammenlebte, war mir neu; wenn Max mir mehr sagen wollte, hätte er es von sich aus getan.
Unterdessen führen meine Füsse mich zum richtigen Hörsaal, "Im Berlin der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff die überragende Figur, von gewaltiger Deutungsmacht, wenn es um die griechische Antike ging. Seine Übersetzungen griechischer Dramen wurden im Theater gespielt, seine Vorträge zu offiziellen Anlässen, etwa Kaisers Geburtstag, oder wichtigen akademischen Ereignissen wie der Einweihung des neuen Gebäudes der Akademie der Wissenschaften, waren städtische Ereignisse, sein Platonbuch war von einer Popularität, dass ein Kritiker es als Platon für Dienstmädchen …"[1] Ich habe die Vorlesung mehrmals gehalten und bin bestens vorbereitet. In der Mitte der Vorlesung beginne ich zu verstehen, was sich mit dem Tod meines Bruders geändert hat:
Sus sprechent die dâ sint begraben,
Beide zen alten und zen knaben:
"Daz ir dâ sît, daz wâren wir,
Daz wir nû sîn, daz werdet ir.
Stand das zuerst auf einem Grabstein in Sparta?
Von der nächsten Vorlesung dispensiere ich mich. Todesfall in der Familie. Ich gehe zu Fuss nach Hause. Fühle ich etwas, oder frage ich mich nur, ob ich etwas fühle? Bin ich deprimiert, weil ich nur noch mich selbst spüre, oder spüre ich nur noch mich selbst, weil ich deprimiert bin? Blockieren die Antidepressiva meine spontanen Empfindungen?
Ursula ist unabkömmlich. Ich packe meine Mappe, die paar Kleider, die ich auf Kongresse mitnehme und mein Toilettenzeug zusammen. Die Antidepressiva werde ich brauchen, denke ich und stelle mir ein italienisches Hotelzimmer vor: Ehebett, Schlafzimmerschrank, Kommode, Spiegel, Alleinsein, Stimmen vom Korridor und das Fernsehprogramm des Nachbarzimmers. Ich schulde meinem Bruder hinzufahren. Begräbnisse sind eine abstrakte Verpflichtung, der nur Feiglinge entkommen. Ich telefoniere Rechtsanwalt Pillori, der sagt, er würde den Gutsverwalter informieren. Wir sähen uns morgen. "Bitte rufen Sie mich an, wenn Sie angekommen sind!" Er erklärt mir den Weg ab Peccioli.
Von Zürich nach Pisa sind es sieben Stunden Fahrt. Das Navigationssystem findet Peccioli, Provinz Pisa. Gegen Abend werde ich dort sein. Ich fahre gern und habe mich immer für Autotechnik interessiert. Während ich über die Autobahn rase, überlege ich mir, was zwischen meinem Bruder und mir schief gegangen ist. Bevorzugten unsere Eltern mich? Hätte ich auf ihn zugehen sollen? Wann? War er von mir enttäuscht, bevor ich erwachsen genug war, die Komplexität menschlicher Beziehungen zu erfassen? Liebte er mich mit einer groben Liebe, die ich nicht verstand? Ich fühle mich schuldig und versuche, der Versuchung zu widerstehen, im Tunnel nach links zu ziehen und mein Unglück zu beenden. Ist diese Fahrt nicht sinnlos, wie alles, was ich tue? Welchen Sinn hatte das Leben meines Bruders? Was kümmert ihn jetzt, ob ich an sein Begräbnis komme?
In einer Raststätte sehe ich einen jungen Mann mit seinem kleinen Sohn oder jüngeren Bruder… Wieder auf der Autobahn überlege ich mir: Wie war mein Bruder, als ich vier-fünf-sechs war und mein Bruder zwölf-dreizehn-vierzehn? War er schon im Internat? Habe ich mich gefreut, wenn er in den Ferien nach Hause kam, oder war er ein Eindringling, der die Harmonie unserer Familie störte? Ich möchte anhalten und mich hinsetzen, um mich besser erinnern zu können. Wie war unser Verhältnis, während Max in Zürich in die Schule ging? Warum kam er ins Internat? War ich der gehätschelte Kuckuck, der Max aus dem wohligen Nest drängte? Gab es ein Problem im Freien Gymnasium in Zürich, das ich vergessen habe? Einen Konflikt mit meinem Vater?
Haben wir uns nur noch an den Begräbnissen unserer Eltern gesehen? Es fallen mir ein paar Sätze ein: Sagte die Mutter mal bezüglich des Freien Gymnasiums, "es ist nicht mehr gegangen?" Sagte Max beim Begräbnis unseres Vaters, "die haben ja schon Jahre nicht mehr miteinander gesprochen?" Warum war Max während der Ferien meist in einem Lager? Sagte er einmal zu mir, "ihr braucht mich ja nicht mehr."
Trennten unsere Eltern uns absichtlich? Passierte im Freien Gymnasium etwas, was Max zum Nur-noch-Geduldeten machte? Hatte mein Bruder recht, dass die Eltern nicht miteinander sprachen? Warum fiel es mir nicht auf? Hielt ich es für normal?
Nach dem Gotthard und dem Monte Ceneri endlich Italien und blauer Himmel. Bis Parma Industriebauten rechts und links der Autobahn und vor, hinter und neben mir Lastzüge. Nach Parma dann Berge, dazwischen das kiesige Flussbett des Taros, alte Dörfer mit hohen Kirchtürmen. Im Radio spricht Vittorio Gassmanns über Dante. Perfekt, mein Italienisch aufzufrischen. Dann rezitiert er den achten Gesang des Infernos. Waren kultivierte Menschen nicht schon immer eine kleine Minderheit? Wer von den Heeren der Griechen und der Trojaner kannte mehr als ein paar Lieder?
Ab der Ausfahrt Pisa zahllose Kreisel und dann, nach Peccioli, die Naturstrasse, die mir der Anwalt angegeben hat.
Wie soll ich mich gegenüber einem Freund, den ich nicht kenne, verhalten? Ich stelle mir einen vierzigjährigen italienischen Intellektuellen vor, wie ihn mir jüngere Kollegen an der Universität als ihren Partner präsentierten. Sorgfältig angezogen, feine Schuhe, parfümiert, intelligent, erfolgreich, Versicherung, Vermögensverwaltung oder Bank, Kettchen am Handgelenk. Im Kopf beginne ich, italienische Sätze zusammenzuklauben. Kann ich dem Freund sagen, ich freue mich, ihn kennenzulernen, wenn der Anlass der Tod meines Bruders ist?
Schon stehe ich vor einem riesigen, offenen Gittertor mit einem rostigen Schild, Podere La Fortuna. Es ist nach sieben Uhr abends und unheimlich still. Das letzte abgestellte Auto, einen Fiat Kastenwagen, habe ich vor ein paar Kilometern gesehen, Menschen keine. Ich bin müde. Soll ich anhalten und eine Viertelstunde schlafen, bevor ich dem Freund gegenübertrete?
Die Naturstrasse geht steil bergan durch einen Wald. Endlich komme ich vor ein paar alten, um einen dicken Turm gebauten Gebäuden an. Ein Tor mit zwei hohen Flügeln und breiten verschlagenen Steinstufen davor. Wie ich aus dem Wagen steige, kommt eine kleine, stämmige Frau aus dem Nebenhaus, die Herzlichkeit und Zuverlässigkeit ausstrahlt, "willkommen, ich bin Maria!" und öffnet mir, "gehen Sie nur hinein, Nene wartet auf Sie."
Ich stehe in einer grossen dämmrigen Halle. Als sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnen, sehe ich einen halbnackten jungen Mann zusammengekrümmt auf einer kleinen Matratze liegen. Er trägt nur eine enge Trainerhose. Ich knie mich neben ihn und berühre ihn. Der Körper ist warm. Er atmet. Ich verstehe, dass dies der Freund ist, um den ich mich kümmern soll. Ratlos spreche ich ihn auf italienisch an. Er antwortet nicht. Ich setze mich auf eine mit grüner Seide bezogene antike Bank, die in der Nähe steht.
Von der langen Fahrt fühle ich mich benommen. Hohe verglaste Türen geben den Blick frei auf eine Terrasse mit Aussicht über das Tal. Ich gehe hinaus. Die Schönheit der Landschaft lässt mich vergessen, weswegen ich hier bin. Ich setze mich auf einen Gartenstuhl. Vor mir wellen im Abendlicht Hügelketten hinter Hügelketten in immer feineren Sand-, dann Grün-, dann Blautönen. Nie wäre mir eingefallen, dass mein Bruder einen Ort solcher Schönheit finden und würdigen könnte. Dass er hier lebte, jeden Tag dieses einmalige Panorama vor Augen.
Der junge Mann setzt sich ungelenk zu meinen Füssen, umfasst meine Knie und weint leise mit dem Kopf auf meinen Knien. Ich spreche ihn wieder auf italienisch an, Wie heisst Du? Wie geht es Dir? Ich schaue ihn mir in Ruhe an. Ein kleiner, schmaler junger Mann, helle Haut mit vielen münzengrossen Pockennarben, ein Tattoo von zwei verschränkten Dreiecken auf dem Oberarm. Rasierter Kopf, der Rücken von schlecht verheilten Narben überzogen. Klassisches Profil, aber starrer Gesichtsausdruck; seine Augen weichen mir aus.
Mein Telefon klingelt. Das Display zeigt Ursula, die den siebten Sinn hat, mich anzurufen, wenn ich keine Lust habe, mit jemandem zu sprechen, doch wenn ich nicht abnehme, verletze ich sie. "Wie geht es dem Freund? Alles im Griff?"
"Überhaupt nicht, hier ist alles anders als erwartet, ein riesiges Gut (sage ich, um abzulenken; ich hasse zu lügen) mit vielen Gebäuden. Ich übersehe noch nichts. Können wir morgen darüber sprechen? Ich bin erschöpft von der Fahrt."
Wenn ich schon mal am Telefonieren bin… pflichtbewusst, wenn auch ungern, rufe ich den Rechtsanwalt in Pisa an, der zusagt, morgen um zehn Uhr herzukommen.
Die auch für einen erfahrenen Griechenlandreisenden berückende Landschaft; auf meinem Schoss Kopf und Arme des eigenartigen jungen Mannes. Seine Trauer mischt sich mit der Schönheit des Ausblicks. Auf was habe ich mich eingelassen? Statt einer Antwort verliert sich mein Blick in der Weite des Sonnenunterganges.
Hat mein Bruder selbst gekocht? Bin ich hungrig oder wird mir nur bewusst, dass ich der Gewohnheit zuwider, das Mittagessen ausgelassen habe? Wo werde ich schlafen? Wenn der Junge nur sprechen würde! Weil ich trockener Kongresse willen reiseerfahren bin, habe ich vage geplant, in einem Drei- oder Vierstern-Hotel in Peccioli oder Pisa zu übernachten, in der erstbesten Pizzeria zu essen, und nach einem Glas Rotwein zu schlafen, wie man in einem fremden Zimmer, fremden Bett eben schläft.
Als könnte er Gedankenlesen, zieht mich der Junge mit wackeligen Schritten, als würde er über seine eigenen Füsse stolpern, ins Haus zurück, in eine geräumige, aber leere Küche. Der Junge weist linkisch auf eine Glocke, die mit SERVIZIO angeschrieben ist. Ich läute und der Junge bewegt sich davon.
Maria kommt und gibt mir zu essen. Ich bin zu müde zu schmecken, was ich esse; waren es gnocchi? Was Maria mir in ihrem toskanischen Dialekt erzählt, verstehe ich zur Hälfte: Der ragazzo heisst Nene, ist ein armer, braver, gestörter Junge, den mein Bruder geliebt hat. Maria zuzuhören schläfert mich ein. Weil ich während der Fahrt nur Kaffee getrunken habe, trinke ich zu viel chianti. Ein caffè gibt mir die Kraft, vom Tisch aufzustehen. Maria zeigt mir ein Schlafzimmer mit einem grossen Bett und Fenstern aufs Land hinaus. Ich lege mich aufs Bett, denke, "ich muss noch meinen Koffer holen" und schlafe ein. Im Halbschlaf spüre ich, dass jemand zu mir ins Bett kriecht, doch ich bin zu müde und etwas betrunken…
Gegen Morgen erwache ich. Ein Körper liegt an mich geschmiegt, nicht Ursula. Ich öffne die Augen und verstehe, dass ich nicht in meinem Bett im Schlafzimmer an der Büchnerstrasse liege. Der Raum ist gross im Morgengrauen. Die Fenster stehen offen, berückende Stille, ein paar Vogelstimmen… Nene liegt neben mir und von ihm fliesst Entspannung und Frieden in meinen Körper. Ich schliesse die Augen wieder. Wie unter Drogen… ich habe keine Erfahrung mit Drogen… das riesige Gut, die alten Gebäude, die Terrasse, die Aussicht, der warme Körper neben mir… ich möchte, dass die Zeit stillsteht; wage nicht mich zu bewegen. Ich möchte Nene küssen und fühle, dass ich eine Grenze zu überschreiten im Begriff bin.
Als ich gegen neun Uhr wirklich aufwache, ist Nene verschwunden. Ich blicke über das Tal mit den vom Grün des Vordergrunds ins bläuliche des Hintergrunds wechselnden Hügeln, dem blauen Himmel darüber. Zur Beruhigung meines schlechten Gewissens fotografiere ich die Aussicht mit meinem Handy für Ursula.
Ein Stockwerk tiefer sehe ich unter einem Sonnenschirm Frühstück auf mich warten. Um zehn Uhr wird der Rechtsanwalt kommen. Ich wasche mein Gesicht, wo ist Nene? trinke Kaffee, esse zwei Brötchen, als schon die Glocke ertönt. Rechtsanwalt Pillori, ein kompakter, mittelgrosser Mann mit grauen Haaren, kommt auf mich zu und setzt sich zu mir. Maria bringt frischen Kaffee. Ich bitte sie, Nene zu rufen, doch sie sagt, "er kann das nicht."
"Hier das Testament: Ihr Bruder hat alles seinem Freund vermacht und Sie als Testamentsvollstrecker und Nacherbe eingesetzt. Nehmen Sie das Mandat als Willensvollstrecker an?"
"Ja, selbstverständlich!"
"…und hier das Verzeichnis der Vermögenswerte, valuta Todestag, soweit machbar."
Das Verzeichnis umfasst mehrere Seiten, Immobilien, Bankkonten, Wertschriften, Total für Erbschaftssteuer EUR 6'150'000. Überall, wo es Nene angeht, steht N.N. "nicht genannt".
"In Italien geben die Steuerwerte nie den realen Wert wieder…"
"Herzlichen Dank, signor dottore, Nene ist der Erbe…"
"Der Freund Ihres Bruders hat keine Papiere. Bis dies geregelt ist, sind Sie für die Erbschaft zuständig. Ihr Bruder hat Sie separat bevollmächtigt, hier..."
Er legt mir eine mit Wertmarken beklebte und üppig gestempelte notarielle Generalvollmacht-über-den-Tod-hinaus vor.
"Aber es gehört mir nicht. Was wissen Sie über den Freund (ich bin froh, dass Rechtsanwalt Pillori dieses Wort benutzt hat) meines Bruders? Wie lange ist er hier?"
"Ein paar Jahre. Maria muss es wissen."
Er ruft nach Maria mit der lauten Stimme eines Mannes, der gewohnt ist, Dienstboten zu befehlen.
"Maria, wie lange ist der Junge hier?"
"Mein Vater hat noch gelebt, als ich ihn zum ersten Mal sah; vier, fünf Jahre sicher. Muss er jetzt fort?"
"Nein, er ist der Erbe des Herrn."
"Gottseidank! Aber wie kann der arme Junge sich um alles kümmern?"
"Der Bruder des Herrn wird sich darum kümmern."
Wir trinken Kaffee. Ich frage Rechtsanwalt Pillori, "wie lange wird es dauern, für Nene Papiere zu besorgen?"
"Amtlich existiert er nicht."
"Warum hat ihm mein Bruder keine Papiere verschafft?"
"Nachdem klar war, dass der Junge hierbleiben wird, habe ich im Auftrag Ihres Bruders sondiert. Aber ohne Mitwirkung des Jungen ist nichts zu erreichen. Ich bin gerne bereit, es noch einmal zu versuchen. Können Sie mit ihm sprechen?"
"Ich bezweifle, dass er versteht, was ich zu ihm sage."
"Wann gehen Sie nach Deutschland zurück?"
"In die Schweiz. Ich unterrichte in Zürich. Wir sind mitten im Semester; so bald wie möglich."
"Und wer kümmert sich um den Freund Ihres Bruders?"
"Können Sie, Maria…?"
"Maria tut alles, was sie kann, doch was, wenn der Jungen wegläuft oder sich etwas antut? Wir dürfen ihn nicht allein lassen. Können Sie nicht länger bleiben? Es geht auch für Sie um viel Geld."
"Ich glaube nicht, dass das möglich ist. Ich werde mit meiner Frau sprechen."
Pillori fährt weg in einem Alfa [Romeo] in offiziellem Dunkelblau. Wieder überkommt mich die Magie des Ortes. Was wenn ich nichts tue? Ursula nicht anrufe. Esse, was Maria kocht, Nene sein stummes Leben leben lasse? Wem schadet er? Wäre er glücklicher, wenn er wie alle anderen leben würde? Wer bestimmt, was normal ist? Mache ich einen Fehler, wenn ich Nene in meinem Bett schlafen lasse?
Am Abend schaue ich mir Pilloris Papiere an. Warum muss dieses Vermögen mir zu treuen Händen überlassen werden, während das Steueramt mich für Rechnungen betreibt, die ich nicht bezahlen kann? Ist es nicht ein grausamer Scherz des Schicksals, dass ich Nene beschützen soll, dessen Tod meine Probleme lösen würden?
Nachts küsse ich Nenes Nacken, während er schläft.
Beim Begräbnis stolpert, ich glaubte nicht daran, Nene mit Maria und Giuseppe in die Kirche. Sie setzen sich neben mich. Nene trägt einen engen schwarzen Trainer mit Kapuze und eine schwarze Covid Maske. Während der Priester spricht, verbirgt Nene plötzlich sein Gesicht an meiner Brust und beginnt zu weinen wie ein Kind. Warum vertraut er mir? Weiss er, dass ich Max' Bruder bin? Ich spüre seinen zuckenden kleinen, schmalen, warmen Körper und möchte ihn in die Arme nehmen, wie ich Peter als Kind in die Arme genommen und getröstet habe.
Ein Chor von Arbeiterinnen und Arbeitern der Kooperative, der Max einen Teil seines Landes zur Bewirtschaftung überlassen hat, singt rührend. Nach der Funktion schüttelt der Bürgermeister von Peccioli mir die Hand, der Pfarrer, Honoratioren, deren Name und Funktion ich nicht verstehe... alle sagen, mein Bruder sei ein guter Mensch gewesen. Nene klammert sich an mich, dreht den Kopf hier- und dorthin, selten in die gleiche Richtung wie seine Augen. Jede Person, die mir die Hand schüttelt, weiss etwas Gutes über meinen Bruder zu sagen: Wie grosszügig mein Bruder gewesen sei; was er alles bezahlt habe; wem er geholfen habe.
Warum harre ich nachts darauf, dass Nene kommt und bei mir schläft? Warum fürchte ich mich, ihn mit einer falschen Bewegung zu verscheuchen? Neben ihm liegend frage ich mich, was seine Nähe mir bedeutet. Ich liebe Ursula, aber sie strahlt nicht die gleiche Ruhe und Entspannung aus, die von Nene ausgeht, der sich in meinen Armen in Schlaf weint. Gibt es tierischen Magnetismus? Was man empfindet, wenn ein Hund oder eine Katze neben uns schläft? Ich fühle ein stilles Glück, Nene zu behüten, seine Atemzüge zu hören, die feinen Atembewegungen zu spüren. Wenn er im Traum zuckt… Ich denke an Peter. Ist Nene ein zweiter Sohn für mich? Wenn Nene sprechen könnte, würde er mir Geld leihen, damit ich die Steuerbetreibungen bezahlen kann? Ich verscheuche mit Mühe eine Wolke schäbiger Gedanken.
Nach dem Frühstück bleibe ich auf der Terrasse sitzen. Die Felder vor mir bis zum Horizont sind seit dreitausend Jahren unter dem Pflug. Was ich sehe, haben Etrusker gesehen. Plagte die Etrusker schon wie die Römer ein beständiger innerer Mono- oder Dialog? oder pflegten sie noch wie die (ältesten) Griechen das stumme Schauen als männliche Tugend? Welche Klarheit leuchtet aus Pindars Oden! An ihren Massstäben gemessen, können wir nicht bestehen.
Tagwesen! Was ist einer? Was ist keiner?
Von einem Schatten der Traum ist der Mensch.
Aber wenn Glanz von Gott gegeben kommt,
dann ist leuchtendes Licht bei den Männern und liebliche Zeit.
Giuseppe fragt mich, "möchtet Ihr einmal das Gut ansehen?" Ich gehe mit ihm. Gut unterhaltene Hallen für die Landwirtschaft; zerfallende Gebäude, die keine Funktion mehr haben. Naturstrassen führen in drei Richtungen, eine abgeschlossene Garage mit einem neuen SUV, ein staubiger Geländewagen steht in einer der Hallen, ein Raupentraktor; Giuseppe zeigt mir den Pferdestall, "der Herr ritt jeden Tag, könnt Ihr reiten?"
"Ich nicht, mein Sohn reitet…" Wir fahren in dem rostigen Geländewagen mit offenen Fenstern über Feldwege. Giuseppe sagt stolz, dass das Gut zweihundert Hektaren umfasst, die Hälfte Wald. Getreide, Wein, Schafe. Ich möchte diese Stille, dieses Gefühl, mitten in der Welt zu sein, nie wieder verlassen. Dass alles, was ich sehe, mir fast gehört, würgt mich.
Maria kocht für Nene und mich. Nene isst, nachdem Maria gegangen ist, allein in der Küche.
Ich zwinge mich, Ursula anzurufen. Zum Glück spricht sie mehr als sie fragt, so dass ich nur nein und wieder nein sagen muss, dann von den zweihundert Hektaren, Weizen, Wein, Wald und Wildschweinen, dem eigenen pecorino erzählen kann. Ich sage meines Bruders Freund, bis Ursula (nicht unerwartet, wir sind zwanzig Jahre verheiratet) fragt, "wie heisst der Freund?"
"Nene"
"Wie alt ist er?"
"Ich weiss es nicht, fünfundzwanzig? Er trägt schwer am Tod meines Bruders. Glaubst Du, Peter könnte herkommen und Nene Gesellschaft leisten, bis es ihm besser geht?"
"Frag Peter selbst!" Das wollte ich. Die Pferde würden Peter herlocken. Ist Nene nicht wie eine Gestalt aus einem der Mangas, die Peter mir zu lesen gibt?
Peter sagt, "ich kann nicht italienisch."
"Nene spricht kein Wort, Du musst nur da sein, damit er nicht allein ist."
"Kann man dort reiten?"
"Logisch… Bitte komm, ich brauche Dich! Es ist wichtig. Wir können Dir auch etwas bezahlen..."
"Am Mittwoch muss ich zum Zahnarzt. Nachher..."
Ich spüre, wie in Peter die Angst, sich der Welt auszusetzen mit dem Wunsch nach Weite und Freiheit ringen; Ursulas fragenden Blicken, wann machst Du endlich was? zu entkommen.
Nach ein paar Tagen hole ich Peter in Pisa ab. Die lange Bahnfahrt hat ihm gutgetan, sehe ich gleich. Dass er nicht kommen musste, sondern ich ihn gefragt, gebeten habe. Dass ich ihn brauche und ihm etwas zutraue.
Auf dem Weg von Pisa nach La Fortuna bereite ich ihn vorsichtig darauf vor, dass Nene kein gewöhnlicher junger Mann ist. Peter, der abgebrühte Mangaka, sieht kein Problem darin, dass Nene halbnackt auf dem Boden herumliegt, kein Wort spricht. Mehr interessieren ihn die Pferde, "darf ich dann auch mal reiten?"
Im Haus schauen Peter und Nene sich an wie ein Hund und eine Katze, die zum ersten Mal im gleichen Raum sind. Peter kann ein der spinnt doch! nicht unterdrücken, aber auf deutsch schadet das nichts. Nene rollt sich in sich zusammen und gibt keinen Laut von sich.
"Um den soll ich mich kümmern? Wo sind die Pferde?"
Wir gehen hinaus, ich stelle ihn Giuseppe und Maria vor. Peter sieht die Pferde und die Naturstrassen, die in drei Richtungen laufen. Welch ein Unterschied zur Reitschule, wo er Stunden nahm!
Auch diese Nacht schläft Nene in meinem Bett. Ich wage, ihn in die Arme zu nehmen. Er weint zuckend an meiner Brust, als hätte er Angst, dass ich ihn verlasse. Ich möchte hierbleiben, doch ich weiss, dass ich zurückfahren werde. Wie grausam ist die Fuchtel der Vernunft! Fast die ganze Nacht liege ich wach, denke über meinen Bruder nach: Hat Nene meinen Bruder geliebt, wie eine Katze oder ein Hund den Meister liebt, der jeden Tag Futter gibt? Was bedeutet, Max hat Nene geliebt, Nene hat Max geliebt? Was ist Liebe? Im Morgengrauen stiehlt sich Nene davon. Ich stelle mich schlafend.
Am nächsten Tag dann sagt Peter, "ich kann nichts anfangen mit ihm, wie kann ich mich um ihn kümmern, wenn er kein Wort spricht? Kann er wenigstens etwas auf ein Papier kritzeln?"
Peter hat sein Tablet mitgebracht und schon rausgefunden, wie das Internet funktioniert.
Rechtsanwalt Pillori behandelt Peter wie einen Erwachsenen und bietet ihm zweitausend Euros pro Monat an. Ich hoffe, dass Peter fühlt, dass wir ihn brauchen, aber er sagt, er will mit mir zurückfahren.
Ich gehe mit Peter spazieren. Kaum sind wir vom Haus weg, fragt er mich, "ist Nene schwul? War Onkel Max schwul?"
"Max, glaube ich, ja. Nene, weiss ich nicht. Spielt es eine Rolle für Dich?"
"Was erwartet Nene von mir? Was erwarten Du und Rechtsanwalt Pillori von mir?"
"Dass Nene sich nicht umbringt, weil er meint, Max hat nicht für ihn gesorgt und wir wollen ihn loswerden; dass er nicht allein wegläuft und ohne Papiere und ohne Geld in Schwierigkeiten kommt; dass Du ihn wie einen behinderten Bruder behandelst. Max hat mir übertragen, mich um Nene zu kümmern. Wenn Nene etwas passiert, erbe ich alles. Nene darf nichts passieren, sonst stehe ich als Mörder da."
"Quatsch! Onkel Max hat Nene geprügelt und vergewaltigt, bis Nene keinen Laut mehr von sich zu geben wagt, und jetzt soll ich es ausfressen, damit niemand erfährt, dass Onkel Max ein Verbrecher war. Hast Du die Narben auf Nenes Rücken gesehen? Du hast selbst gesagt, dass Onkel Max ein Grobian war. Wie alt ist Nene? Wie lang ist er schon hier?"
"Willst Du, dass ich die Polizei rufe?"
"Was hilft das Nene?"
"Genau! Max ist tot. Jetzt geht es nur noch um Nene. Bitte hilf mir! Wenn es nicht anders geht, bleibe ich da…" mir kam eine Idee… "wenn ich Dir Max' Pferde schenke, bleibst Du dann?"
"Kannst Du die zwei Pferde einfach verschenken?"
"Ja, ich habe eine Vollmacht. Wenn Du Dich um Nene kümmerst, schenke ich Dir die Pferde."
"Du willst mich kaufen, das kannst Du gleich vergessen…" Ein Zitat aus Peters Lieblingsfilm, ich bin erleichtert.
"Ich bitte Dich von ganzem Herzen."
"Wenn ich bleibe, dann um Nene zu helfen, nicht wegen den Pferden und nicht, weil Ihr mir was zahlt. Mir ist wurst, ob er schwul ist oder was. Max hat ihm das Gut vermacht, und jetzt soll Nene hier leben können, ohne dass er betrogen und bestohlen wird. Er braucht einen Schutzengel."
Mir kommen die Tränen, "danke, ich bin stolz auf Dich, Peter!"
Wir spazieren schweigend weiter. Peter ist innerlich gewachsen. Ich bin stolz auf ihn.
Am nächsten Tag fahren wir mit dem wunderbaren, fast neuen [Alfa Romeo] Stelvio Quadrifoglio ans Meer. Torre del Lago ist ein endloser Naturstrand hinter einem Pinienwald. Nene läuft in den Kleidern ins Wasser. Schwimmen kann Nene nicht, aber mit Peter in der Brandung sitzen und liegen vergnügt ihn unermesslich. Peter fragt mich gleich, "können wir einen Swimming Pool bauen lassen... Hat Nene genug Geld?"
Heute ist nicht der Tag, wo ich Peter etwas abschlagen will, "ich frage Dr. Pillori"
Der junge Mann, der mit verhülltem Gesicht in felpa und Trainingshosen im Wasser sitzt, erregt am Strand von Torre del Lago keine Aufmerksamkeit. Nene aus dem Wasser zu bringen und so weit zu trocknen, dass seine nassen Kleider die Lederpolster nicht beschädigen… ist ein anderes Kapitel.
Nachdem Peter sich entschlossen hat, Nenes Schutzengel zu werden, kann er nicht erwarten, dass ich ihn und Nene allein lasse.
Das letzte, was ich sehe, bevor ich abreise, ist Peter mit Kopfhörer und Tablet, der neben Nene auf dem Boden sitzt und Musikvideos schaut. Von Zeit zu Zeit etwas auf deutsch zu Nene sagt, der in eine andere Richtung blickt und es sich stumm gefallen lässt.
Auf der Heimfahrt kommt mir in den Sinn, dass ich mit vierzehn oder fünfzehn in einem Lager mit einem Klassenkameraden Sex hatte. War ich verliebt in ihn? Ich erinnere mich nur, dass ich ihn hübsch fand, aber es blieb bei diesem einen Mal. Waren wir beide betrunken?
Juni
Zuhause versucht Ursula (sie ist Juristin und arbeitet in der Justizdirektion) in unserer Küche die Situation zu analysieren:
- Nene hat keine Papiere. Wie kann man Papiere beschaffen für eine Person, die nicht sagt, wer sie ist? Wie funktioniert das in Italien? Gibt es eine EU-Regelung?
- Warum hat Max ihm keine Papiere beschafft? Hat Max ausgenützt, dass Nene keine Papiere hat?
- Vorläufig bist Du als Willensvollstrecker für die Verwaltung des Vermögens zuständig.
- Nach italienischem Recht hat der Willensvollstrecker kein Anrecht auf eine Vergütung seines Zeitaufwandes, nur der Spesen.
- Wenn der Erbe nicht rechtsmündig ist, muss ein Vormund eingesetzt werden. Der zu Bevormundende ist anzuhören. Wie kann ein Vormund für eine Person eingesetzt werden, die keine Papiere hat?
- Können Du oder Pillori die Vormundschaft übernehmen? Beide habt Ihr Interessenkonflikte…
Hat Ursula mit ihren systematischen Fragen recht? Müssen wir nicht mehr wissen, bevor wir eine Maschine in Gang setzen, die Nene zerstören könnte? Während Ursula sich fragt, was wir tun müssen, frage ich mich, was passiert, wenn wir nichts tun.
Ich schaue mir an, was mit Magneten am Kühlschrank hängt. Haben unser allzu einfaches Labyrinth von Korridor und Zimmern, die definitive Einrichtung, die gelösten Probleme Peter gelähmt? Hat die perfekte Organisation unser Leben wegrationalisiert? Fotos halten die letzten zehn Jahre fest: Peter in der Primarschule, im Skilager, mit Gitarre, im Judoanzug. Wie schnell eine Jugend verstreicht! Wieviel habe ich falsch gemacht oder verpasst, das sich jetzt nicht mehr gutmachen lässt! Ich vermisse Peter, wie er mit neun oder zehn war.
Die Psychiaterin frage ich, ob es möglich ist, dass ich mich in den Geliebten meines gerade verstorbenen Bruders verliebt habe. Bin ich ein Spätzünder-Homosexueller? Frau Doktor Weiss zeichnet mir auf ihrem whiteboard ein Schema der needs, die die aktuellen sozialen, emotionellen, genitalen Aspekte unserer Sexualität bestimmen, gefärbt von unserer persönlichen Geschichte ab der frühesten Kindheit. Sie stellt in den Raum, dass ich unbewusst Peters Erwachsenwerden als einen Verlust erlebe, den ich mit Nene zu kompensieren versuche.
Jeden Tag sende ich Peter eine Message. Wenn Peter schreibt, reiten oder arbeite mit Giuseppe, alles OK! mit einem Bild, wo er am Steuer des Geländewagens sitzt, weiss ich, dass alles in Ordnung ist. Ich hoffe, dass Peter und Nene zueinanderfinden, wie zwei Menschen zueinanderfinden, denen je auf ihre eigene Weise die normal-vernünftige Welt abhanden gekommen ist. Ich wünsche Peter, den Frieden und die Ruhe zu spüren, die von Nene ausgehen.
Was aber heisst Nene ist schwul. Sag Mami nichts!
Pillori mailt mir Bankpapiere zur Unterschrift. Hunderttausende von Euros liegen auf einer lokalen Sparkasse. Ich bitte Pillori, eine Offerte für einen Pool einzuholen. Wenn Max gewusst hätte, dass ich Geld benötige, hätte er mir geholfen? Nachts denke ich an Nene, sehne mich nach seiner Nähe; suche eine Ausrede, nach Peccioli zu fahren.
Als Peter mir am Telefon sagt, "langsam kommen wir klar", hätte ich ihn umarmen mögen. Logisch muss Ursula, die Realistin, am gleichen Tag fragen, wie es mit Peter weitergehen soll, "ewig kann er ja nicht dort unten bleiben!"
"Lass ihn ein erstes Mal Verantwortung übernehmen. Peter braucht gebraucht zu werden; Nene braucht Peter. Wem schaden die zwei, wenn sie auf dem Gut leben?"
Dass Nene bei mir geschlafen hat, binde ich Ursula nicht auf die Nase. Peter, der Ursula fast so gut kennt wie ich, wird von selbst nichts erzählen, was Ursulas Interesse an Details wecken könnte. Wir wissen beide, dass bei Ursula Antworten nur neue Fragen provozieren. Gibt es nicht Dinge, über die man besser schweigt? Wie verheimlicht man einer erfahrenen Juristin, dass man ihr etwas verheimlichen will?
In der Universität schalte ich auf den Autopiloten. Ich höre mich über Troia sprechen, erstaunt, dass mein Hirn quasi ohne mein Zutun und nicht ohne rhetorische Brillanz funktioniert.
Juli
Kaum ein Tag vergeht, ohne dass Ursula mich drängt, nach Peccioli zu fahren, "ich will sehen, was Peter macht!"
Peter sagt mir am Telefon, "lass sie bloss nicht herkommen, dann sind wir wieder am Punkt Null."
"Wo seid Ihr denn jetzt?"
"Nene ist mit mir im Pferdestall gewesen!"
"Genial! Gut gemacht! Ich bin stolz auf Dich!"
"Darf ich Nene ein iPhone kaufen, damit er mit mir kommunizieren kann?"
"Logisch, Pillori verwaltet Nenes Geld. Ich werde Pillori sagen, er soll es Dir bringen lassen. Welche Farbe?"
"Wie meins. Sag Mami Grüsse, und wartet noch mit herkommen!"
Dafür bin ich bereit, einen Ehestreit zu riskieren. Über grünen Nudeln, die ich im CONAD in Peccioli gekauft habe, Wein und Salat, rede ich Ursula zu, "wir sollten erst zu Peter fahren, wenn er uns ausdrücklich einlädt. Er macht mit Nene kleine Fortschritte. Es ist noch ein langer Weg, bis Nene anderen Menschen gegenübertreten kann."
"Peter ist auch mein Kind… was macht er den ganzen Tag? Wo soll das hinführen?"
"Er passt auf Nene auf, geht reiten, pflegt die Pferde, das Gut ist gross, Arbeit gibt es genug."
Die Nudeln schmecken lauwarm immer noch. Der Wein ist so-so. Wie kann ich Ursula erklären, dass La Fortuna ein magischer Ort ist, wo andere Regeln gelten?
"Und was wird aus Peter?"
"Könnte Peter nicht in diese Mangaschule gehen, von der er gesprochen hat? Volterra ist nicht weit von Peccioli."
Ohne Peter ist es in unserer Wohnung still. Ich vermisse Peter, obwohl er nur in seinem Zimmer hocken würde. Vermisse ich Nene? Es sind ein paar Wochen vergangen, die Erinnerung an Nene ist zur Erinnerung an Erinnerungen geworden. Was habe ich für Nene gefühlt?
Eines nachts träume ich, gemeinsam mit Peter zu onanieren. Nene ist dabei und will meinen Penis in den Mund nehmen... Ich erwache erregt und verwirrt. Ich fühle mich schuldig, obwohl ich wach nie solche Fantasien habe; als hätte man in mir etwas gefunden, wofür ich mich schämen muss. Bedeutet der Traum, dass ich Sex mit Peter und Nene will, oder dass ich mich davor fürchte? Im Traum fühlte ich mich jung und genoss, aber ich wache erschreckt auf und lade mir gleich Freuds Traumdeutung auf mein Tablet runter. Ist Inzest das tägliche Brot der Psychiatrie? Je länger ich Freud lese, umso mehr verschwindet die Scham über den Traum. Ich mache mir Notizen mit der Psychiaterin zu besprechen.
Die Offerte für den Swimming Pool ist vernünftig. Ich bestelle einen Pool von neun mal sieben Metern, eins siebzig tief. Peter freut sich, Nene eine Freude zu machen.
Ich lache gezwungen, als ich Frau Doktor Weiss den peinlichen Traum erzähle, aufgesetzt stolz, einen Freud-würdigen Traum geträumt zu haben. Sie erklärt mir, dass Inzestträumen den Wunsch ausdrücken, von dem oder den Traum-Sexualpartnern geliebt zu werden. Ich fühle mich teilbefriedigt wie ein Kind, dem seine moderne Mutter sagt, dass Onanie normal sei. Wenn Onanie normal ist, warum kommt sie in keinem Jugendbuch vor?
August
Peter schickt mir eine Message, er habe eine harmlose Lungenentzündung. Der Arzt gebe ihm Antibiotika, alles sei in Ordnung, nur noch etwas Fieber. Ursula will sofort losfahren. Wir brechen am nächsten Morgen um sechs Uhr auf und lösen uns ab mit Lenken.
Auf der Umfahrung von Mailand geraten wir in den Morgenstossverkehr. Sind wir zu spät? Hätten wir nach Pisa fliegen sollen? Mal können wir hundert Meter fahren, mal fünfzig. Ursula spricht mit Peter am Telefon. Es beruhigt mich.
Im nächsten Autogrill trinken wir cappuccino und essen paste vuote. In Zürich hat es geregnet, auf dem Parkplatz des Autogrills ist es heiss. Alles scheint mir plötzlich unwirklich; die Depression überfällt mich. Neben Ursula zu sitzen, die lenkt, lässt Fragen hochkommen oder Halbfragen, sinnlose Warum? und Wozu? Max… Nene… Peter… wären nicht alle besser dran, wenn ich tot wäre? Mein Leben ist eine endlose Reihe von Irrtümern und Fehlern, dummem Besserwissen und verschwendeten Gelegenheiten. Ich schäme mich, Nene wiederzusehen, den ich feige und vernünftig verlassen habe. Zum Glück lässt mich Ursula nach einem weiteren cappuccino in einem Autogrill vor Parma wieder lenken.
Die wilde Landschaft der Cisa nimmt mich gefangen. Wie schön wäre, hier zu Fuss oder mit dem Velo unterwegs zu sein! Überall anzuhalten, sich hinzusetzen, die Schönheit der Landschaft zu geniessen. Aber die Kraft, etwas zu unternehmen fehlt mir. Ich wäre lieber tot.
Nach Peccioli kann ich nicht länger aufschieben, Ursula auf Nene vorzubereiten, "wenn Nene etwas tut, was Du nicht erwartest, bitte zeig es nicht. Er ist nicht gefährlich."
"Was willst Du damit sagen?"
"Manchmal liegt er halbnackt auf dem Boden und reagiert auf nichts. Oder er läuft weg, wenn jemand kommt, den er nicht kennt. Maria, die Haushälterin, sagt, Max' Tod habe ihm zugesetzt. Peter scheint mit ihm klarzukommen."
Wir biegen auf die Naturstrasse nach La Fortuna ab. Das Tor steht offen. Ich fahre langsam die holprige Strasse hoch und halte vor dem Haupteingang. Da steht auch schon Giuseppe, "willkommen! Es ist gut, dass Ihr kommt. Pietro ist krank."
Maria öffnet uns die hohe Türe, begrüsst Ursula und zieht sie mit sich, "kommt!" Ich gehe hinter ihnen die breite Sandsteintreppe hoch. Wie alt ist dieses Haus? Die dicken Mauern scheinen für die Ewigkeit gebaut. Was habe ich hier verloren? Ich folge schlafwandelnd Maria die Treppe hinauf. Wie wird Nene reagieren, wenn er mich wiedersieht?
Peter liegt in dem Zimmer, in dem ich geschlafen habe. Nene hockt in einem Trainingsanzug mit Kapuze hinter dem Bett auf dem Boden, die Kapuze über die Augen gezogen. Erkennt er mich? Ich sage, "ciao, Nene!" Peter grinst trotz Fieber. Nene regt sich nicht. Ich fühle mich verletzt.
Ursula kontrolliert die Medikamente, die auf einem Nachttisch liegen. Peter hebt den Kopf, "es geht mir schon viel besser, macht Euch keine Sorgen. Maria kümmert sich um mich. Danke, dass Ihr gekommen seid. Bitte seid lieb mit Nene!"
Die Fenster stehen offen; draussen ist der Himmel wolkenlos. Im Garten wird der Pool ausgehoben; ein kleiner Trax baggert. Der weite Horizon scheint sich bis zum geahnten Meer zu spannen. Zumindest die Landschaft, die Aussicht sind noch da. Ist Peter so viel besser für Nene als ich?
Ursula kniet neben Nene, "come stai?" Wie geht es Dir? Peter sagt, "Mami, setz ihn nicht unter Druck! Es geht ihm mittel. Wir kommen klar."
Maria fragt, ob Ursula und ich essen möchten, sie habe etwas vorbereitet. Wir gehen hinunter. Ursula sagt, "und Nene?" Maria antwortet lachend, "er isst mit Pietro, macht Euch keine Sorgen, er ist mein Schatz."
Maria serviert uns dicke frische Spaghetti mit Käse und grobem Pfeffer, radicchio al forno mit eigenem Öl und balsamico, roter Wein von den eigenen Reben, selbstgebackene bastoncelli und Kaffee. Die Atmosphäre im Haus ist anders als bei meinem ersten Besuch. Heiterer, lockerer. Ist es, weil seit dem Tode meines Bruders ein paar Monate vergangen sind?
Ursula hilft Maria das Geschirr raustragen. Maria sagt, "Pietro ist wie ein Sohn für Giuseppe und mich. Er hilft unserm Schatz viel."
Wir gehen wieder zu Peter. Nene hockt auf der anderen Seite des Bettes, die Kapuze noch tiefer über die Augen gezogen. Peter hat sich auch auf diese Seite gedreht. Ursula entdeckt den elektronischen Fiebermesser, "wieviel Fieber hast Du, zeig!... 38.2° Du gehörst ins Bett!"
"Mami, ich bin im Bett!"
Ich befreie einen Sessel von Peters Kleidern und setze mich. Draussen senkt sich die Sonne, der weite Ausblick beruhigt mich. Peter ist zu schläfrig, mit Ursula zu streiten. Maria bringt stelline in brodo auf einem Tablett mit zwei Tellern.
Peter sagt, "könntet Ihr bitte einen Augenblick in den salone runtergehen, damit wir essen können?"
"Warum müssen wir dafür raus?"
"Bitte!"
Ich ziehe die widerstrebende Ursula mit mir, die auf der Treppe fragt, "seit wann dürfen wir nicht mehr zusehen, wenn Peter isst?"
"Nicht, wenn Peter isst. Wenn Nene isst. Er kann nicht essen, wenn wir zusehen."
"Der gehört in eine Therapie!"
"Ich glaube, er bekommt sie schon. Nach Max' Tod war er an einem Tiefpunkt. Seit ich hier war, hat er riesige Fortschritte gemacht; dank Peter."
"Und Peter? Ist es nicht zu viel für ihn?"
Maria führt den Arzt herein, der sich als Doktor Innocenti vorstellt, "Ihren Sohn hat es erwischt. Ich gehe hinauf, sobald sie fertig gegessen haben."
"Ist es Covid?"
"Nein, eine bakterielle Pneumonie. In ein paar Tagen ist Ihr Junge wieder auf den Beinen."
Ursula kann sich nicht enthalten zu fragen, "und Nene?"
"Es geht ihm besser, das ist offensichtlich, aber es ist ein langer Weg…"
"Unter was leidet er?"
"Ein funktionelles Syndrom. Es ist ein Glücksfall, dass Ihr Sohn hergekommen ist. Er ist die beste Medizin für den armen Jungen."
Ursula fragt, "was ist ein funktionelles Syndrom?"
"Symptome ohne organische Ursache, beispielsweise als Folge eines Traumas."
"Ist er taubstumm?"
"Nein, er kann nicht sprechen, vermutlich, weil er gequält und missbraucht wurde."
"Von wem?"
"Das wissen wir nicht. Es ist ein Wunder, dass der Junge überlebt hat. Ich betreue ihn, seit er hier angekommen ist. Herr Max hat alles für den Jungen getan, was möglich war. Der Tod Ihres Bruders hat ihn zurückgeworfen."
Maria kommt mit den leeren Tellern, "Ihr dürft raufgehen."
Doktor Innocenti steht auf und wendet sich an mich, "… Entschuldigung, noch etwas, wer bezahlt die Medikamente für Nene, Sie oder Rechtsanwalt Pillori? Fast 1000 Euros pro Monat… er ist HIV-positiv; nicht versichert."
"Sie können die Rechnungen Rechtsanwalt Pillori geben. Er wird sie bezahlen. Hat Max Nene angesteckt?"
"Nein, Nene war schon positiv, als er hier angekommen ist. Es hat mit seinem Vorleben zu tun. Herr Max war nie HIV-positiv. Machen Sie sich keine Sorgen, Peter hat die Medikamente gesehen. Er weiss, wie er sich verhalten muss. Fragen Sie Maria, in welchem Zustand Nene hier angekommen ist. Sie erzählt es Ihnen gern."
Doktor Innocenti geht.
Ursula sagt, "das ist ja furchtbar..." doch dann kommt Maria, um uns das Zimmer zu zeigen, das sie für uns vorbereitet hat. Sie führt uns durch einen langen mit unebenen Sandsteinplatten belegten Gang in ein Gästezimmer, das in einem anderen Gebäude liegt und nach Westen Richtung Peccioli schaut. Ich verstehe, dass Maria uns von den zwei Jungen entfernen will.
"Möchtest Du noch einen Moment spazierengehen?"
"Ja, gerne."
Ursula und ich schauen im Garten das Loch für den Pool an, daneben schon die Fundamente für das Poolhaus. Hätte Max den Pool gutgeheissen? Habe ich überstürzt zugestimmt? Bin ich Nenes Vormund? Wenn Nene einen Pool will… ist es nicht sein Geld?
Ursula sagt, "Max hat sich einen wunderbaren Ort ausgesucht. Ich dachte immer, er sei ein Banker, der nur an Geld interessiert ist, aber dieses Haus, die Aussicht, das Land, Maria und Giuseppe, alles überrascht mich. Ich hätte ihn gern besser gekannt."
"Und wie gefällt Dir Nene?"
"Er tut mir leid. Hätte Dein Bruder nicht… aber vielleicht hat Doktor (wie heisst er?) recht…"
"Innocenti… Ich verspreche Dir, dass ich alles für Nene tun werde, was ich kann… reicht Dir das?"
"Hat Dein Bruder ihn nie erwähnt?"
"Wir konnten nie wie Brüder miteinander sprechen. Acht Jahre Altersunterschied waren zu viel. Wir lebten in verschiedenen Welten."
"Und dass er homosexuell war..."
"Das war nie ein Thema. Von meinen Kommilitonen waren die Hälfte homosexuell."
Wir gehen eine weisse, staubige Naturstrasse hinunter, die durch abgeerntete Weizenfelder führt. Der weisse Kalksteinkies der Strasse strahlt noch die Hitze des Tages aus. Ich weiss nicht, wie mein Bruder die letzten fünfzehn oder mehr Jahre in Italien gelebt hat. Ich habe ihn mir unablässig mit Geldvermehren beschäftigt vorgestellt; mich überlegen gefühlt, weil ich in der geldentrückten Welt der Wissenschaft lebte. Nun erschlägt mich die Stille dieses Ortes, die sprachlose Trauer Nenes, wie mich schon bei der Beerdigung beeindruckt hat, dass die Honoratioren und Landarbeiter nur Gutes über Max zu sagen wussten. Ich schäme mich, dass der Geldwert des Gutes, des von Pillori verwalteten Vermögens mich blendet. Wenn ich mit Nene sprechen könnte, würde ich ihn bitten, mir Geld für die Steuerforderungen zu leihen. Das Geld für den Swimming Pool hätte schon gereicht.
Es dämmert. Ich denke an Beschreibungen des Ersten Weltkrieges, Lerchen über Kornfeldern. Ich bin dankbar, dass Ursula schweigt. Hier fällt Vergessen leicht; die Landschaft scheint ausserhalb der Zeit zu liegen, die in Zürich unbarmherzig vorwärts tickt.
Zurück in unserem Zimmer fragt mich Ursula noch einmal, "hat Max mit Dir nie über Nene gesprochen oder ihn in einem Mail erwähnt?"
"Wir hatten nur wegen der Erbteilung Kontakt und da war Max grosszügig und unkompliziert. Ich glaubte immer, er lebe allein. Ich verstehe, dass er mit mir nicht über Nene sprechen wollte. Ich hätte es nicht verstanden. Morgen will ich mal Max' Papiere durchsehen, ob ich was über Nene finde."
"Nene ist Max' boyfriend gewesen, richtig?"
"Ich glaube es, sonst hätte Max ihm nicht alles vermacht. Sie waren fünf Jahre zusammen, sagt Maria."
"Wie alt war Dein Bruder?"
"Einundsechzig..."
"Und Nene?"
"Ich weiss es nicht, fünfundzwanzig?"
"Quatsch! Er sieht jünger aus als Peter, dann war er vierzehn oder fünfzehn..."
"Was mein Bruder falsch gemacht hat, können wir nicht mehr ändern. Jetzt geht es nur noch darum, Nene zu helfen."
"Wenigstens hat er für ihn gesorgt. Nie hätte ich Deinem Bruder zugetraut, mit einem Taubstummen zusammenzuleben."
"Ob Nene taubstumm ist, weiss ich nicht. Er spricht nicht. Hört er was? Er reagiert nicht."
"Kann es nicht sein, dass Nenes Verhalten das Ergebnis davon ist, wie Dein Bruder ihn behandelt hat?"
Wie grob mein Bruder als Knabe und junger Mann war… Hat er Nene geschlagen? Ich erinnere mich an die schlecht verheilten Narben auf Nenes Rücken. Hätte Maria zugelassen, dass mein Bruder Nene schlug? Doktor Innocenti muss die Narben gesehen haben; soll ich ihn fragen?
"De mortuis nil nisi bene. Über Tote [soll man] nichts oder Gutes [sagen]. Wenn stimmt, was Doktor Innocenti sagt, dann hat Nene Grauenhaftes durchgemacht, bevor er hier ankam. Wir sehen nur, wie es ihm jetzt geht."
"Nene braucht einen Vormund!"
"Und wie wird er ihn wieder los, wenn er ihn nicht mehr braucht oder will? Wenn die Amtsmühlen einmal zu mahlen beginnen, hören sie erst auf, wenn das ganze Vermögen aufgebraucht ist. Ich bin zuversichtlich, dass Nene dank Peter sich so weit erholt, dass er selbst zu sich schauen kann."
"Ich mache mir um Peter Sorgen, dass er sich auf etwas eingelassen hat, was er nicht bewältigen kann."
"Ich bin froh, dass Peter einen Ort gefunden, wo er gebraucht wird, einen Menschen, der ihn braucht."
Wir gehen schlafen. Ich habe mir in Zürich Some Athenian Epigrams from the Persian Wars von Felix Jacobi auf mein Tablet heruntergeladen. Ist das Altertum ein Ideenfriedhof? Erwartet Ursula, dass ich hier die Zügel in die Hand nehme? Bin ich geeignet, Nenes Vermögen zu verwalten? Habe ich mit dem Pool einen Fehler gemacht?
Ich träume, ich sei wieder in der Wohnung meiner verstorbenen Eltern und müsse ihre Schränke und Kommoden räumen. Im Traum will ich die Privatsphäre meiner Eltern nicht verletzen, nicht sehen, was sie mir nicht zeigen wollten. Die Unterwäsche meiner Mutter… mein Vater hat nach ihrem Tod alles unverändert gelassen. Ich wache auf. Es ist noch vor Sonnenaufgang, aber doch nicht mehr nachtdunkel. Mir widerstrebt, die Papiere meines Bruders durchzusehen. Ursula hat es nicht ausgesprochen, doch zwischen uns steht, dass Nene vielleicht schon als Minderjähriger hier angekommen ist. Woher kannte ihn Max? Würde ich in Max' Papieren etwas finden, was sich auf Nene bezieht? Ist Nene der Sklave meines Bruders gewesen, sein Gefangener, ein armer Junge, wie Maria sagte, oder Max' Freund, wie Pillori sagte?
Ich stehe leise auf und setze mich in die Fensternische, die in den dicken Mauern ausgespart ist. Die Landschaft scheint zu schlafen. Ein Käuzchen höre ich und ein anderes, das antwortet. Wenn das alles mir gehören würde… Ist mein Interessenkonflikt nicht fatal? Wie kann ich in Nenes Interesse handeln, wenn ohne ihn alles an mich fällt? Wäre nicht besser, ein Aussenstehender, Neutraler wäre Nenes Vormund, wie Ursula vorgeschlagen hat? Aber wem kann man trauen? Pillori? Ich werde wieder schläfrig. Die Nachtlandschaft draussen ist heller geworden; gibt es einen Handlungsbedarf? Was kann Nene Besseres passieren als Peter, der, mir unverständlich, cool mit Nene umzugehen weiss? Caritas ist das letzte, was ich Peter zugetraut hätte. Aber habe ich nicht genausowenig Max zugetraut, dass er für Landarbeiter eine offene Hand haben könnte?
Ich schlafe noch eine Weile neben Ursula. Im Halbschlaf scheint wieder Nene neben mir zu liegen, doch diesmal ist es nur ein Traum… schläft Nene jetzt bei Peter?
Vor dem Frühstück schauen wir nach Peter. Es geht ihm besser, d.h. er behandelt uns wieder wie die unmündigen Erwachsenen, die wir für ihn in Zürich waren. Nene schläft in einem Trainingsanzug hinter Peters Bett oder stellt sich schlafend. Ich sage, "heute muss ich mal Max' Papiere durchschauen, ob ich etwas über Nene finde."
Peter, vom Fieber für einen Augenblick genesen, sagt, "spar Dir die Mühe, das habe ich schon gemacht; die Computerdaten sind gelöscht; was man wegwerfen musste, habe ich weggeworfen."
Empört frage ich, "warum hast Du das gemacht?" und Ursula, "was fällt Dir ein, Max ist Georgs Bruder!"
Für einmal sind Ursula und ich gleich aufgebracht. Peter sagt, "ich wusste, dass Ihr mir den Kopf waschen werdet, doch es ist passiert. Die Sachen haben mich belastet. Giuseppe hat alles entsorgt. Es sind nur noch die Bank- und Buchhaltungsdokumente übrig, was auf das Gut Bezug nimmt, und was Nene betrifft."
"Hast Du Nenes Papiere gefunden?"
"Gesucht habe ich sie. Gefunden habe ich…"
Ursula unterbricht Peter, "hast Du seine Papiere gefunden?"
"… einen Polizeirapport."
"Dann weisst Du, wie er wirklich heisst?"
"Nein, der Polizeirapport bezieht sich auf albanische Kriminelle, die einbrechen wollten."
"Meinst Du Nene stammt aus Albanien? Könnte gut sein. So sieht er aus."
"Die Albaner haben ausgesagt, sie hätten einen Jungen gesucht, der ihnen weggelaufen ist."
"Und dann?"
"Wurden sie verhaftet und verschwanden."
Unterdessen habe ich mich beruhigt. Habe ich Lust, Max' Papiere durchzuschauen? Peter hat richtig gehandelt.
Ursula fragt, "habt Ihr schon gegessen?"
"Wir wollten gerade, da seid Ihr gekommen."
Wir verstehen und gehen hinunter, wo Maria auf der Terrasse ein Frühstück mit frischem Brot, Butter, Käse, selbstgemachter Konfitüre, Kaffee und Milch vorbereitet hat.
Ursula fragt mich, "bist Du wütend wegen den Papieren?"
"Willst Du die Wahrheit wissen?"
"Ja… Es ist Dir egal."
"Ich bin froh. Ich hatte keine Lust, meine Nase in die Privatsachen meines Bruders zu stecken. Die Sachen meiner Eltern aufzuräumen, hat mir Alpträume beschert."
"Hat Peter nicht doch mehr von uns, als wir meinen?"
"Eltern unterschätzen ihre Kinder, weil sie sie immer noch als Kinder sehen."
"Wenn hier jemand jemanden als Kinder behandelt, dann Peter uns. Ich fühle mich noch lange nicht senil."
"Das kann man selbst nicht beurteilen."
"Ja, Herr Professor!"
Ist das toskanische Brot besser oder ist das Brot in der Toskana besser, weil die Luft in der Toskana besser ist? Zuhause schmeckte der mitgebrachte pecorino nicht mehr halb so gut.
Ursula schenkt mir Kaffee ein, "es ist ein Paradies; ich möchte nie wieder wegfahren."
"Es gehört alles Nene."
"Denkst Du, wie es wäre, wenn es uns gehören würde?"
"Max erwartet von mir, dass ich für Nene sorge."
"Max ist tot. Du bist jetzt de facto Nenes Vormund. Ist es nicht, als ob wir einen zweiten Sohn hätten?"
Mit vollem Mund überlege ich mir, aber ohne grosses Interesse an den Antworten, a) ob Peter schwul sei, b) ob Peter mit Nene… haben Nenes Probleme Peters Probleme gelöst? neutralisiert?
Nach dem Frühstück frage ich Maria, ob sie einen Augenblick Zeit hätte. "Sicher, kein Problem!"
"Doktor Innocenti hat gesagt, Sie könnten uns erzählen, wie Nene hierhergekommen ist."
"Es ist eine traurige Geschichte und unglaublich. Der Herr hat einen riesigen Hund gehabt, der alt war und gestorben ist. Ich habe die Matratze des Hundes nicht weggenommen, weil ich nicht wusste, ob der Herr einen neuen Hund kaufen will. An einem Morgen, wie ich komme, um das Frühstück zuzubereiten, liegt ein Junge auf dem Hundebett, mit einem Sack voll Silbersachen daneben. Das war Nene. Er hat sich in das Haus eingeschlichen, um zu stehlen, aber war so krank, dass er sich auf die Hundematratze gelegt hat und eingeschlafen ist. Er hatte hohes Fieber und sah aus wie ein... wie heissen diese Walt Disney-Hunde?"
"Dalmatiner"
"Ja, wie ein Dalmatiner. Schwarze Flecken im Gesicht und überall. Der Herr hat Doktor Innocenti gerufen. Wir haben ihn Tag und Nacht gepflegt. Ohne Doktor Innocenti wäre Nene bestimmt gestorben. Wir konnten nur noch beten. Nach vier Monaten ging es ihm besser, aber er hat Todesangst vor allem, was er nicht kennt, und will sich verstecken. Wie er jetzt ist... mit Pietro ist wie ein Wunder."
"Aber war Nene nicht Max' Geliebter?"
"Das weiss ich nicht, vielleicht später. Nene liebte den Herrn mit einer verrückten Liebe (Maria sagte con un amore pazzesco), weil Ihr Bruder ihm das Leben gerettet hat. Als der Herr gestorben ist, wollte Nene nichts mehr essen. Ich fütterte ihn Löffel um Löffel."
Ich gehe spazieren, allein. Ich schaue mir nochmal das Loch an, wo der Pool hinkommt. Es ist wie eine Wunde in dem alten Garten. Ich habe Anzeigen für Ferienhäuser in der Toskana gesehen. Alle haben einen neuen Pool im gleichen Poolblau. Ich habe einen Pool in Naturstein bestellt, dunkles Wasser; der Entwurf wurde als piscina romana angepriesen, eine Kopie des Bades in Calafuria. Fürchte ich mich vor allem Neuen?
Ursula hat Mails zu beantworten. Ich bin nicht Ursula, die die Welt in erstens, zweitens, drittens aufteilt, und doch weiss ich erstens, dass ich hierbleiben will, unvernünftig, wie ein Kind plötzlich fühlt hier gehöre ich hin, hier ist meine Heimat, als wäre ihm der Ort vorbestimmt. Zweitens, was bedeutet, dass Nene mich anzieht? Ziehen mich auch andere junge Männer an? Hat mich je einer meiner Studenten erotisch fasziniert? Studentinnen? Ich weiss nur, dass zu kurze Röcke und zu lange Beine mich irritieren, und ich nicht mag, wenn Studenten am Küssen sind, wenn ich in das Seminarzimmer komme.
Die Hitze macht mich müde. Die Weite der Landschaft gibt mir den Mut, mich in den Schatten eines Baumes zu setzen. Was, wenn ich einfach hierbleibe? Wartet nicht – theoretisch – hier viel Arbeit auf mich? Wäre ich Peter und Nene im Weg? Hätte ich vom ersten Tag an hierbleiben sollen?
Als wäre ich seit Jahren zum ersten Mal allein, überschaue ich mein Leben: Ich bin dreiundfünfzig Jahre alt. Aussteigen liegt nicht in meinem Charakter. Habe ich alles falsch gemacht? Bin ich meinem Bruder verwandter als ich angenommen habe? Soll ich die Erbschaft an mich reissen und hierherziehen? Zürich ist weit weg, die Universität unwirklich, die Gegenwart der Landschaft verdrängt das Altertum. Wissenschaft wozu? Was gibt es zu wissen, das sich zu wissen lohnt? Ist nicht stille Gegenwart mehr als alles Wissen?
Ich erinnere mich an Der Fänger im Roggen von J. D. Salinger: der Junge, der sorgt, dass die spielenden Kinder nicht eine Felswand hinunterstürzen. Kann ich nicht wie dieser Fänger im Roggen Nene und Peter beschützen, dass sie etwas leben können, was mir nicht gegeben ist? Schon als Kind habe ich genossen, aus freien Stücken auf ein Dessert zu verzichten, aber jetzt scheint mir, dass ich nicht nur auf das Erbe meines Bruders verzichte, das mir nicht gehört, sondern darauf, wie ich den Rest meines Lebens leben möchte. Gibt es hier ein kleines Bauernhaus, wo Ursula und ich leben könnten? Gibt es irgendwas, was ich noch machen möchte? Verschwinden, ohne jemanden zu verletzen?
Fast am Horizont pflügt ein Raupentraktor. Ist es Giuseppe? Interessiert sich Peter für Landwirtschaft? Interessiere ich mich? Bilde ich mir ein, Nenes Vormund zu sein? Schulde ich meinem Bruder, dass sein Vermögen nicht verlorengeht? Bevormunde ich Peter? Bin ich eifersüchtig auf Nene, auf Peter, oder beide?
La Fortuna gehört Nene. Ich kann helfen, dass Nene und Peter zurechtkommen, mehr nicht. Wenn ich mein Leben ändern will, dann nicht wegen oder dank diesem Gut. Im Augenblick, unter diesem Baum scheint mir alles klar, doch ich weiss, sobald ich aufstehe, fangen mich tausend Verstrickungen ein und die Depression, die sie auslösen. Ich werde mit Ursula in die Schweiz zurückfahren, unterrichten, an meinem Kommentar zur Griechischen Anthologie weiterarbeiten.
Ich will mich nur einen Augenblick hinlegen und schlafe gleich ein. Im Traum sitze ich vor einer Hütte am Meer. Ein Junge ist bei mir, den ich kenne; ist es Peter? oder Nene? einer meiner Studenten? Zwischen uns ist klare Heiterkeit. Ich erwache erfrischt.
Zurück im Haus gehe ich zu den Jungen hinauf. Nene schläft am Boden neben dem Bett. Peter liegt wach auf dem Bett und gibt mir ein Zeichen, Nene nicht zu wecken. Ich spüre, dass zwischen ihnen etwas ist, um das ich sie beneide und ihnen gleichzeitig wünsche.
Ich gehe glücklich hinunter und setze mich auf die Terrasse. Ursula kocht mit Maria. Ich blicke in die Landschaft hinaus. Alles scheint mir fern, entrückt, als ginge mich nichts mehr an, als wäre ich mit meinem Bruder gestorben. Ich sehe mich auf einem Strahl wie das im Gymnasium hiess, am Punkt A, und entfernt davon gibt es einen Punkt B, meinen Tod. … will ich die Zeit festhalten oder mir die Zeit vertreiben, welchen Wert, welchen Sinn hat es von A nach B zu gelangen, wenn am Punkt B alle Erinnerung aufhört?
Ursula ruft mich zum Essen. Ich habe keinen Appetit; ich sehe kommen, dass wir morgen zurückfahren oder spätestens übermorgen.
Ursula fragt, "möchtest Du hierbleiben?"
"Ja, das Licht… Max hat recht gehabt, hierher zu ziehen."
"Wenn Du bleiben willst… Hat es hier nicht genug Platz?"
"Stell Dir vor, Deine oder meine Eltern wären zu uns gezogen… ich glaube, wir würden alles verderben."
"So viel Unterstützung wie nötig, so wenig Einmischung wie möglich. Gutes Management: unterstützen und motivieren, ohne die Initiative zu lähmen."
"Manchmal verstehst Du mich besser, als ich erwarte, danke!"
"Soll das ein Kompliment sein? Etwas anderes: Meinst Du Peter ist homosexuell? Ich meine, Nene..."
"Geht es uns was an? Machst Du Dir Sorgen?"
"Sorgen nicht, aber... hast Du keine Angst, dass Peter von Nene angesteckt wird?... aber Du hast recht, es geht uns nichts an."
Ich schenke uns nach. Habe ich mich in Nene verliebt? Der dunkelrote Wein entspricht der weiten Landschaft.
"Und Nene... ich meine, dass Dein Bruder mit ihm gelebt hat?"
"Vielleicht verstehe ich, was Max an Nene gefiel... ein Mensch, der ganz anders ist, nicht von den gleichen Sorgen niedergedrückt... Die Griechen haben beides gefeiert: Freunde, die mehr als Brüder sind, und Freunde, die sich wie Yin und Yang ergänzen."
"Und die Römer?"
"Die Römer bevorzugten Beziehungen mit einem Machtgefälle... dominus et servus, Eigentümer und Sklave..."
"Wie Max und Nene?"
"Müssen wir es wissen?"
Die Sonne ging unter, wir blieben sitzen auf der Terrasse. Peter kommt und setzt sich zu uns, "es geht mir besser, danke, dass Ihr gekommen seid. Nene geht es auch besser. Jetzt schläft er. Wir kommen klar."
"Du meinst, wir können nach Hause fahren?"
"Ihr müsst nicht! Danke, dass Ihr gekommen seid! Giuseppe fragt mich viele Sachen, die ich kaum verstehe, und Rechtsanwalt Pillori möchte noch mit Papi sprechen. Wenn es Euch recht ist, bleibe ich hier, solange Nene mich braucht."
Ursula fragt, "spricht Nene mit Dir?"
"Meinst Du Onkel Max hat mit Nene deutsch gesprochen? Wenn ich mit ihm deutsch spreche, versteht er, glaube ich, was ich meine. Wir kommen klar."
Der Ton, mit dem Peter wir sagt, macht mich glücklich.
Ursula und ich fühlen uns höflich aufgefordert, abzureisen. Nach der Sitzung mit Pillori fahren wir am übernächsten Tag gutgelaunt nach Hause zurück. Warteten wir nicht seit Monaten darauf, dass Peter auf seinen eigenen Füssen zu gehen beginnt? Nun will er ohne uns auskommen. Fürchte ich mich vor der Stille in unserer Wohnung ohne Peter?
September
In Zürich ist es so still, wie ich befürchtete. Endlich könnte ich mich auf meine Arbeit konzentrieren. Warten Ursula und ich darauf, dass Peter uns anruft, uns braucht? Ich nehme mir vor, mein sabbatical so bald als möglich zu beziehen. Obwohl ich mir sage, dass es mich nichts angehe, versuche ich, Max' Beziehung zu Nene zu ergründen. Welche geheimen Saiten rührte Nene in Max an? Was empfand mein grober Bruder für den todkranken kleinen Dieb? Leidet Nene einen stummen Schmerz, der nicht enden will? Ich möchte weinen.
Oktober
Peter sendet mir, und ich ihm, fast täglich Messages und Bilder vom Pool-im-Bau. Ich spüre, dass Peter sich ändert. Ist es die Verantwortung für Nene? Peter lernt Italienisch. Ich vermisse ihn. Mit Ursula allein zu sein… Nachdem wir jahrelang zu dritt waren, plötzlich zu zweit. Die Uni, die Justizdirektion… wir sprechen über Peter, der, spüren wir, selbständig, erwachsen, selbstbestimmt wird.
Wenn die Depression mich plagt, möchte ich nach Peccioli fahren und auf der Terrasse sitzen, die Weite geniessen. Habe ich mit dem Pool den Garten zerstört? In der Uni fühle ich mich zunehmend fremd. Die gestelzten Diskussionen von Menschen, die sich jede Woche mehrmals unfreiwillig treffen, irritieren mich. Mein sabbatical wird für das nächste Herbstsemester bewilligt. Ist etwas in mir abgestorben? Auch Ursula zieht es nach Peccioli, doch was können wir beitragen? Sollen wir uns aufdrängen, weil wir ohne Peter keine Perspektive mehr haben?
Macht die Depression mich langsamer? In den Vorlesungen und mit den Studenten funktioniere ich, aber wenn ich mich an den Kommentar setze, fühle ich mich gelähmt. Vom Stuhl aufzustehen und ein Buch im Gestell zu suchen, strengt mich an. Was mich interessiert hat, interessiert mich nicht mehr. Ich lese Anakreon…
Ich will des Atreus Söhne,
Ich will den Kadmos singen:
Doch meiner Laute Saiten,
Sie tönen nur von Liebe.
Jüngst nahm ich andre Saiten,
Ich wechselte die Leier,
Herakles' hohe Thaten
Zu singen: doch die Laute,
Sie tönte nur von Liebe.
Lebt wohl denn, ihr Heroen!
Weil meiner Laute Saiten
Von Liebe nur ertönen.[2]
… Peccioli, Nene, das Licht der Toskana. Wenn ich mir etwas überlegen will, verstummt mein Hirn, steht alles still. Ich weiss nur, wo ich sein möchte.
November
Der Pool ist fertig. Peter schickt mir Bilder. Das Becken in Naturstein fügt sich besser in den Garten ein, als ich befürchtet habe. Das Poolhaus in Backstein mit Zwischenräumen gemauert im toskanischen Stil wird ein paar Jahre brauchen, bis es kein Fremdkörper mehr ist.
Peter textet mir, "Nene ist schon im Wasser, obwohl es kühl ist. Er ist glücklich."
Auf WhatsApp fragt Peter mich, "was hältst Du von no-till?"
"Was ist no-till?"
"Nicht-Pflügen, Masanobu Fukuoka, natural farming…"
"Keine Ahnung, ich verstehe nichts von Landwirtschaft. Was sagt Giuseppe?"
"Kannst Du mit ihm sprechen? Ich kann noch nicht so gut Italienisch."
Ich google Masanobu Fukuoka und natural farming:
Nicht Pflügen
Nicht Düngen
Nicht Spritzen
Nicht Jäten
Nicht Schneiden
Es scheint mir eher eine Philosophie als Landwirtschaft. Wie kommt Peter auf diese Ideen?
Ist was ich tue, meine Arbeit wert und das Geld, das dafür ausgegeben wird? Heutige Menschen mit der Vergangenheit zu verbinden, scheint mir eine wichtige Aufgabe, doch ist nicht vieles, was in der Uni läuft, Leerlauf? Muss alles erforscht werden? Wozu Studenten fördern, die nur eine akademische Karriere anstreben ohne Interesse am Fach?
Dezember
"Kommt Ihr hierher für Weihnachten?" fragt mich Peter über WhatsApp, "es wäre schön, zusammen zu sein. Das Haus ist geheizt, keine Angst."
"Was schenken wir Nene?" ist Ursulas grösste Sorge, "meinst Du, er würde einen Pullover tragen? Oder eine warme Jacke? Ist es jetzt kalt in Peccioli?"
"Richtig kalt vielleicht nicht, aber italienische Häuser sind selten gut geheizt."
Die Verkäuferinnen in der Import Parfümerie empfehlen mir Dolce & Gabbana, zwei grosse Geschenkpackungen. Ursula kauft schwarze Nike hoodies für Nene und Peter. Heisst felpe nach Italien bringen, nicht Eulen nach Athen tragen? Peters Winterkleider, die er im Herbst nicht mitgenommen hat, zusammenzupacken, deprimiert mich. Wird er je zurückkommen? Wird sein Zimmer nun zu einem toten Zimmer, wie das Zimmer meines Bruders bei meinen Eltern, in dem ich seine Bücher las?
Ursula und ich fahren am 22. Dezember nach La Fortuna.
Als wir ankommen steht Nene auf und gibt uns die Hand, bevor er sich auf die kleine Bank in der Halle setzt, Kapuze über die Augen gezogen, sein iPhone in der Hand. Wir gehen in den grossen Raum, der auf die Terrasse geht. Der Pool ist leer. Ursula fragt Peter, "wie geht es Nene?"
"Er versteht schwizertütsch! – Ein Tag besser, ein Tag schlechter, wir nehmen es, wie es kommt. Nene ist intelligent…"
Peter scheint gewachsen, massiver, muskulöser… das Gesicht kräftiger, energisch, gebräunt. Reiten und draussen sein tut ihm sichtlich gut. Keine Spur von hikikomori mehr. Er trägt einen zu grossen Wollpullover guter Qualität; von Max? Max ist tot. Alles, auch seine Kleider, gehört nun Nene… Nene und Peter sind jetzt hier daheim. Ursula und ich sind Gäste.
Maria und Giuseppe kommen. Nene gleitet langsam der Wand entlang die Treppe hinauf. Ursula zeigt Maria, was wir zum Essen mitgebracht haben; bald sind sie in der Küche. Ich frage Giuseppe, "wie geht es Euch?"
"Wir sind glücklich, dass es Nene besser geht… Wir vermissen Ihren Bruder. Nene und Pietro haben eigene Ideen. Wir hoffen, dass wir hierbleiben dürfen."
"Sicher dürft Ihr hierbleiben. Peter interessiert sich für natürliche Landwirtschaft."
"Ist unsere Landwirtschaft nicht natürlich?" fragt Giuseppe.
"Vielleicht meint er ohne Dünger und ohne Herbizide…"
Nene und Peter essen nicht mit uns. Ursula sagt, "es ist schade, dass wir nicht zusammen essen können, aber immerhin hat er mir die Hand gegeben. Was ist natürliche Landwirtschaft? Meint er bio?"
"Peter interessiert sich dafür."
"Meinst Du Max hat mit Nene schwizertütsch gesprochen? Und was heisst er ist intelligent?"
Hat Max Nene wie einen grossen Hund behandelt, der isst, trinkt und schläft? Hat ein Stummer weniger Gedanken und Träume im Kopf? Habe ich mich gefragt, was Nene fühlt? Denkt Nene über mich nach, während ich über ihn nachdenke? Peter hilft Nene mehr, als ich Nene je hätte helfen können, tröste ich mich. Dass Peter Max' Pullover trägt; dass Max' Spuren verschwunden sind, schockierte mich im ersten Augenblick. Die Möbel scheinen noch am gleichen Platz zu stehen; haben Nene und Peter ein paar Bilder ab- oder umgehängt?
Vor dem Einschlafen versuche ich mich zu erinnern, wie es war, als Nene bei mir schlief. Warum hat es mich glücklich gemacht, den Schlafenden zu beschützen? Bin ich immer noch verliebt in Nene? Was bedeutet Liebe? Liegen Peter und Nene nun beieinander und Peter streichelt Nene, tröstet Nene, beschützt Nene? Ich liebe beide und bin glücklich, dass sie sich lieben.
Am anderen Morgen erwachen wir zu einem strahlend blauen Himmel; wir können auf der Terrasse frühstücken. Peter setzt sich zu uns, "wir haben schon gegessen; Nene hat gern Müesli."
"Wie geht es Dir? Erzähl!" fragt Ursula.
"Wir heiraten, sobald Nenes Papiere bereit sind."
"Was! Warum?"
"Wir heiraten, sobald Nenes Papiere bereit sind. Pillori ist daran alles zu organisieren. Ich habe meine Papiere in Zürich schon bestellt per Internet. Schickt mir alles hierher, wenn es ankommt. Ich werde mich hier anmelden.
Warum? Ich will es. Ich will hier nicht wie ein Parasit leben, den man irgendwann rauswerfen kann. Wenn das mein Leben ist, will ich hierbleiben dürfen…"
"Liebt Ihr Euch? Seid Ihr beide homosexuell?"
"Nene ist ein Teufel… Entschuldigung, für uns ist Sex nicht entscheidend. Logisch haben wir Sex, aber darum geht es nicht."
"Um was geht es dann?"
"Entweder ich bin hier als Nenes Angestellter, aber das will er auf keinen Fall, oder als sein Partner."
"Gestern hast Du gesagt, er sei ein lieber Mensch… streitet Ihr Euch?"
"Streiten? Noch nie… Nene macht mit mir, was er will… versucht nicht es zu verstehen! Schickt mir einfach meine Papiere, wenn sie kommen."
Ich frage Peter, "weisst Du jetzt, wie er wirklich heisst und wo er geboren ist?"
"Ja, ich habe es gesehen… er will Nene bleiben und wird Meyer heissen wie ich."
"Wo ist er geboren?"
"Es ist kein Problem."
"Du willst es nicht sagen?"
"Richtig. Die Heirat ist eine Papiersache. Für Nene und mich ändert sich nichts. Jetzt gehe ich rauf zu ihm. Danke!" Peter geht grinsend.
Ursula sagt, "das ist der Gipfel!"
Ich bin verblüfft und gleichzeitig glücklich, dass Peter sein Lebensschiffchen selbst zu steuern beginnt. Draussen treiben ein paar Wolken. Peter und Nene werden heiraten… alles ist besser als erwartet.
"Willst Du noch Kaffee?" ich schenke Ursula nach.
"Regt Dich das nicht auf?"
"Dass sie heiraten? Peter hat recht, dass er eine solide Grundlage für sein Leben will."
"Peter ist nicht homosexuell. Eine Mutter spürt das."
"Pferde interessierten ihn mehr als Mädchen."
"Für mich ist es ein Schock; für dich nicht?"
"Nein, oder ja, im ersten Moment, aber jetzt… es gefällt mir, dass Peter sein Leben selbst in die Hand nimmt."
"Und was ist mit der Rekrutenschule? Passt Du dann auf Nene auf?"
"Ich weiss nicht, ob Peter einrücken muss, wenn er in Italien angemeldet ist…"
Gern hätte ich gesagt, mit Freuden passe ich auf Nene auf, aber ist das nicht eine verräterische Wunschvorstellung? Achtzehn Wochen hier auf dem Gut; ein Semester ausfallen lassen; Nene… Peter hat schön ausgesehen, wie er so entschlossen geredet hat. Was zwischen Peter und Nene ist… Peter beschützt Nene, das fühle ich, aber warum sagt Peter, Nene ist ein Teufel! und Nene macht mit mir, was er will? Thomas Mann sagte, Wer am meisten liebt, ist der Unterlegene und muss leiden. Hat Nene Peter verführt? Hat er mich verführt? Was spürte ich, als Nene in meinen Armen lag… Schutzlosigkeit; die Abwesenheit von Verteidigung; der Wunsch, um jeden Preis geliebt zu werden?
"Glaubst du Peter ist verliebt?"
"Bestimmt und vice versa."
"Dann ist ja alles gut und wir können spazierengehen."
Wie rasch Peter erwachsen geworden ist! Gerade noch, scheint mir, ist er in die Primarschule gegangen, und nun… was geschieht mit seinem Zimmer? Peter hat recht, Nägel mit Köpfen zu machen.
Irgendwann sagt Ursula, "Grosskinder kann ich mir wohl abschminken?"
"Gewöhn dich zuerst daran, einen Schwiegersohn zu haben."
"Und wenn er Peter unglücklich macht?"
"Ich habe ein gutes Gefühl. Peter will Nene beschützen, und Nene… ich glaube, Nene will Peter gehören..."
"Woher weisst Du das?"
"Ich weiss es nicht. Das ist mein Gefühl. Peter ist ein Mann geworden, seit er mit Nene zusammenlebt. Wir können stolz sein."
Auf der Terrasse sagt Ursula gegen Abend zu Peter, "ich mache mir einfach Sorgen…"
"Mami, ich weiss, dass Du Dir Sorgen machst. Ich liebe Nene, weil er Nene ist, nicht, weil er ein Mann ist. Es ist ein Kitsch, aber die Wahrheit. Entschuldigung, Mami!"
"Warum entschuldigst Du Dich?"
"Als ich hier angekommen bin, hatte ich das Gefühl, endlich am richtigen Ort zu sein, und… Nene und ich waren keinen Augenblick wie Fremde…"
"Du hast gesagt, 'der spinnt doch!'" sage ich.
"Und Nene hat alles verstanden… nach ein paar Tagen waren wir, als hätten wir schon immer zusammengelebt."
Der Weihnachtstag fängt gut an; Peter zeigt uns die Pferde. Nene steht scheu im Hintergrund. Als wir den Stall verlassen, bleibt er bei den Pferden. Will Peter ihn mitziehen? Ursula und ich gehen raus, Peter kommt mit Verzögerung nach, "er will im Stall bleiben."
Ursula sagt im Scherz, "bis am Abend kommt er dann schon…"
"Vielleicht! Bitte erwartet nicht zu viel von Nene. Er weint. Es ist gut für ihn, aber ich bleibe jetzt lieber bei ihm." Peter geht zurück in den Stall.
Ursula und ich spazieren einen Feldweg hinunter. "Verstehst du, was los ist?"
"Nene ist wie ein Eislauf-Anfänger; er will aufrecht zu stehen, doch immer wieder gleitet er aus."
"Können wir ihm helfen?"
"Wir müssen ihn akzeptieren, wie er ist."
"Ein schöner Schwiegersohn!"
"Er tut Peter gut. Ich bin stolz auf Peter."
Ich mag nicht über Nene sprechen. Er gehört Peter; geht, was zwischen ihnen ist, Ursula und mich an? Ist Liebe vernünftig? Gibt es etwas zu denken, zu verstehen? Werfen nicht alle Liebenden einander vor, 'du liebst mich nicht – ich liebe dich mehr als mich selbst'.
"Was hättest du gemacht, wenn ich so kompliziert gewesen wäre?"
"Dann wärst Du eine andere Person gewesen; ich habe mich in Dich verliebt, weil Du nicht wie die anderen Mädchen warst. Intelligent, geradlinig und auf Deine Art hübsch. Ich hätte nie Peters Geduld mit Nene." Ursula und ich sind ein eingespieltes Team. Es gibt etwas Mädchenhaftes in Ursula, das mich berührt; der Wille, eigene Probleme selbst zu lösen, nie zu jammern. Hat Ursula das von ihrer ostpreussischen Grossmutter geerbt?
Beim Weitergehen fällt mir auf, wie wenig ich mich für Ursula interessiere. Interessiere ich mich für Peter? Für Nene? Alles Vergangenheit! Wenn Peter mich nicht mehr braucht… Nene braucht mich nicht.
Als wir zurückkommen, sagt uns Peter, "Nene hat sich versteckt…"
Ursula fragt, "weisst Du, wo er sein kann?"
"Ich weiss, wo er ist, aber das hilft nichts."
"Warum? Beruhigt er sich nicht, wenn Du mit ihm sprichst?"
"Es ist nicht das erste Mal. Dass ich Eltern habe und er nicht, tut ihm weh, glaube ich, dass er nie Weihnachten feiern konnte… es kommt vieles zusammen; er möchte…"
"Was?"
"Nichts, ist es schlimm, wenn ich jetzt zu ihm gehe? Können wir am Morgen Weihnacht feiern?"
Maria kommt und Ursula erzählt ihr, was passiert ist. Maria sagt, "ich glaube, Nene versteckt sich im Keller, aber der Herr wollte nicht, dass ich in den Keller gehe, nicht mal um zu putzen. Wenn Nene sich versteckt, ist es besser, ihn in Ruhe zu lassen, bis es ihm besser geht."
"Aber heute ist Weihnachten… können wir zusammen essen?"
Wir essen mit Maria und Giuseppe im Kerzenschein. Am Ende des Abendessens kommt Peter zu uns, "es geht Nene besser, jetzt schläft er."
"Was war?"
"Er wollte, dass ich ihn bestra… Er wollte bei den Pferden bleiben. Wenn er bei den Pferden ist, beginnt er zu weinen und ich kann ihm nicht helfen. Die Pferde sind für ihn wie Freunde, die ihn verstehen."
"Er wollte, dass du ihn bestrafst?"
"Nene ist ein Teufel oder nein, der liebste Mensch auf der Welt. Ich bin super behütet aufgewachsen, ich danke Euch dafür, und Nene das Gegenteil…. Ich habe Hunger; ist noch was übrig?"
Maria bringt ihm zu essen. Ursula gibt ihm die Geschenke für ihn und Nene. Ich sehe, dass Peters Gedanken anderswo sind. Warum will Nene, dass Peter ihn bestraft? Hat es mit den Narben auf Nenes Rücken zu tun? Will Nene, dass Peter ihn schlägt? Ich schaue in die Kerzen… Im Januar heiraten sie; es ist ihr Leben. Ursula und ich meinten, wir kennten Peter. Ich möchte fragen, doch besser nicht fragen. Nene ist ein Teufel oder nein, der liebste Mensch auf der Welt. Ursula spricht mit Maria und Giuseppe. Ich höre nicht zu. Alles entgleitet mir. Ich fühle mich mitten in der Welt und von allem entfernt.
Peter fragt mich, "hast Du Depressionen? Du bist so ruhig."
"Ich weiss es nicht. Nichts interessiert mich mehr. Alles scheint bedeutungslos… Entschuldigung!"
"Vielleicht könnte Nene Dir helfen; wenn ich zuviel denke, schreibt er, 'denkst du?' mit ein paar smileys."
"Er hat recht; denken nützt nichts. Wir wissen nur Belangloses."
"Masanobu Fukuoka würde Dir gefallen. Ich hole Dir das Buch." Peter steht auf, "oder sollen wir auf die Terrasse sitzen? Es ist nicht kalt."
Wir sitzen draussen auf den eisernen Möbeln ohne Kissen.
"Mami soll sich nicht viele Gedanken machen wegen Nene. Mit einem Menschen zusammenzuleben, den man nicht kennt, ist ein Abenteuer. Auch für Nene. Vielleicht hat er gemeint, ich sei wie Onkel Max. Er weiss nicht, wie gut ich es als Kind hatte, aber er stellt sich bestimmt vor, dass ich alles hatte, was er nicht hatte. Wenn es ihm gut geht, dann sind wir Freunde; wenn es ihm schlecht geht, bin ich Onkel Max und Nene ist mein Hund."
"Heute ging es ihm schlecht?"
"Weil Ihr Euch so gefreut habt, mich zu sehen. Weil ich Eltern habe, die mich lieben."
"Danke, Mami wird sich freuen, das zu hören."
"Es gibt auch liebe komplizierte Eltern. Ich freue mich, wenn Ihr hier seid, und ich bin froh, dass Ihr nicht immer hier seid. Wenn Ihr nicht hier seid, weiss ich, dass ich verantwortlich bin für Nene und für mich. Giuseppe hat reklamiert, nicht wahr?"
"Wegen der natürlichen Landwirtschaft?"
"Dabei will ich nur auf einer Hektare ausprobieren, ob es funktioniert."
Wir gehen hinein und bald schlafen. Weil es nicht kalt ist, lassen wir die Fenster offen. Draussen ist es still. Schlafen Peter und Nene? Ich will, dass Peter und Nene sich lieben, heiraten, zusammenbleiben wie Ursula und ich zusammengeblieben sind.
"Schläfst Du?"
"Nein, ich denke über Peter und Nene nach."
"Machst Du Dir Sorgen?"
"Peter hat gesagt, er hätte liebe Eltern."
"Das freut mich, jetzt kann ich gut schlafen. Schlaf gut!"
Ich liege lange wach. Peter hat recht: Zusammenleben ist ein Abenteuer. Ursula und ich haben Glück, dass wir uns ergänzen. Peter ist nicht ich, Nene nicht Ursula. Ich sehe uns vier wie die Ecken einer aus Papier gefalteten Kardinalsmütze. Peter hat etwas von mir und etwas von Ursula; Nene ist der Fremdkörper. Können wir ihn zu einem von uns machen, oder können wir mehr wie Nene werden? Gibt es etwas in Nene, was Max gefehlt hat?
Durch die offenen Fenster höre ich die Pferde im Stall schnauben und von Zeit zu Zeit mit den Hufen scharren. Er wollte bei den Pferden bleiben. Wenn er bei den Pferden ist, beginnt er zu weinen und ich kann ihm nicht helfen. Die Pferde sind für ihn wie Freunde, die ihn verstehen. …, weil sie sein Schicksal teilen? Verstehe ich den Schmerz, den Nene empfindet, vorher Max zu gehören und jetzt Peter, wie ein Hund, der einen neuen Meister hat? Nene macht mit mir, was er will. Ist Nene wie meine Mutter, die sich schweigend durchsetzte? Auch gegen Max? Erinnere ich mich?
Peter zeigt mir den Pferdestall. Ich blicke in die grossen, dunkeln, zeitlos traurigen Augen der Pferde, sehe, was Nene sieht… Die Pferde sind für ihn wie Freunde, die ihn verstehen. Wieder frage ich mich, Leidet Nene einen stummen Schmerz, der nicht enden will? Die Depression zieht mich in den Abgrund einer verlorenen Religion vor dem intellektuellen Denken. Uns und die schnaubenden Pferde umgibt die Ruhe des Gutes. Wie Nene möchte ich allein im Stall bleiben und weinen. Die Pferdeaugen ziehen mich zurück in meine Kindheit… liebte ich die Pferde, die mein Bruder ritt, oder beneidete ich sie? Für einen Augenblick bin ich wieder das Kind, dem Blumen und Steine leben, das die Wolken ziehen sieht, das nichts will und in dessen Welt mein Bruder… Warum hing für mich damals alles von meinem Bruder ab? Etwas erwacht in mir, wie ein zu oft geträumter Traum oder eine vergessene Realität. Als ich mein Knie brach, trug Max mich die Treppe in den ersten Stock hoch und runter… habe ich mich je geborgener gefühlt als in seinen Armen?
Rechtsanwalt Pillori kommt. Eine geschäftliche Sitzung am langen Esszimmertisch. Deutsch, Italienisch und Englisch durcheinander. Peter verteilt eine am Computer geschriebene Traktandenliste. Er geht die Dinge wie Ursula an und lässt sich von Pillori und mir nicht bevormunden. Er hört uns zu und sagt dann "Nene will es so" oder "Nene will es nicht"; wir müssen nur noch unterschreiben. Ich fühle, wie die Verfügungsgewalt über Nenes Besitz Peter stärkt und bin stolz, wie zurückhaltend und zugleich entschlossen unser Sohn handelt.
Januar
Ursula und ich fahren zurück, obwohl mich nichts nach Zürich zieht. Wieder fühle ich, dass ich von meinem Leben wegfahre. Ursula spricht über Nene, "ich gewöhne mich daran, dass wir jetzt zwei Söhne haben. Kaum hockt Peter nicht mehr in seinem Zimmer, haben wir einen zweiten Sohn, der kein Wort sagen will…"
"Ich glaube, er kann nicht. Doktor Innocenti hat gesagt…"
"Ich weiss, aber wenn Nene nicht sprechen kann, warum tut er, als ob er auch nichts hört? Aus Bequemlichkeit? Nene lässt sich von Peter bedienen…"
Ist es nicht Nene, der Peter aus seiner Bude herausgelockt und ihm die Augen zur Welt geöffnet hat? Wäre Peter ohne Nene der entschlossene junge Mann geworden, auf den Ursula und ich stolz sind? Ist es nicht gerade Nenes Inaktivität, die Peter aktiviert hat? "Hast Du das Gefühl, dass Peter unglücklich ist?"
"Nein… Ich habe ihn lange nicht mehr so glücklich gesehen. Er ist ein anderer Mensch geworden. Dass er sich für Landwirtschaft interessiert…"
"Sei Nene dankbar! Peter braucht einen Menschen, der nur ihm gehört…"
"Wie Nene vorher Max gehört hat! Hat das nicht etwas Perverses… wie ein Sklave?"
Ich antworte nicht. Wie er jetzt ist, scheint mir Nene seiner erbärmlichen Kindheit entkommen, von der Zukunft nicht bedroht. Später… kann man leben, wenn man an später denkt? Er wollte, dass ich ihn bestra… Ist Peter verpflichtet, uns zu erklären, was zwischen ihm und Nene ist?
In Zürich überlege ich mir… scheinen mir Depression, meines Bruders Tod, Nene, mein Mangel an Motivation und die Entfremdung von der Universität zusammenzufliessen. Was ich vermutete, dass in einer Universität Nichtstun weder zensiert wird noch erstaunt, beweist mir jeder Tag. Studenten, die es nicht interessiert, etwas vorzutragen, was mich nicht mehr interessiert, belastet mich kaum. Ich versuche zu verstehen, was in mir vorgeht. Alles zieht mich nach Peccioli. Wenn ich Fukuoka Masanobus One-Straw Revolution lese, die mir Peter geschenkt hat, bin ich zumindest in Gedanken bei ihm und Nene. Frau Doktor Weiss sagt, sie könne mich krank schreiben. Kann ich gesunden gefangen in meinem Studierzimmer? Wenn ich nach Peccioli gehen dürfte… Das Buch von Fukuoka Masanobu handelt von natürlicher Landwirtschaft, genauer von der Natur. Dass die Natur ohne unser Zutun Früchte hervorbringt; wir mit unseren Eingriffen nur die Folgen früherer Eingriffe korrigieren; eine Landwirtschaft mit der Natur; dass es kein Unkraut, keine Schädlinge gibt, sondern die Natur, wenn wir nicht eingreifen, sich selbst reguliert; dass die Natur den Menschen nicht braucht… Gedanken über Gut und Bös kommen auf oder Tao:
Dass Licht irgendwie besser ist als Dunkel und, dass gut sicher gegenüber schlecht zu bevorzugen ist, ist ein westlicher Glaubensartikel. Aus dem folgt unser Drang zu erobern, was als schlecht betrachtet wird, und mit Gewalt die Welt zu verändern für einen kurzzeitigen Vorteil. Doch ch'i, kosmische und darum universelle Energie, die sich in yin und yang manifestiert, erscheint in allen Gegensätzen. Die zwei sind untrennbar, und gut braucht schlecht, um zu existieren, wie Licht Dunkel braucht: das eine kann nicht ohne das andere existieren. Im einen ist der Samen des anderen, wie wir im yin/yang Symbol sehen können.[3]
Schlug Max Nene? Schlägt Peter Nene? Ist Natur schlagen und geschlagen werden? Bedeutet yin und yang, dass jeder Mensch gut und schlecht ist, nicht anders sein kann? Akzeptiere ich, dass Peters und Nenes Leben Licht und Dunkel umfasst? Nene ist ein Teufel oder nein, der liebste Mensch auf der Welt. Können wir, statt zu wünschen, dass er wie wir sei oder werde, Nene akzeptieren, wie er ist?
Februar
"Wir haben gestern geheiratet." Ursula ist empört, dass Peter uns nicht zu ihrer Hochzeit eingeladen haben, doch Peter sagt, für Nene und ihn sei es nur eine Formsache. Gehört La Fortuna nun uns? Versteht es auch Peter so? Ist das Peters dunkle Seite? Ich bewundere die quasi kriminelle Energie, mit der Peter die Kontrolle über Nenes Vermögen an sich gerissen hat. Aber: Nene macht mit mir, was er will… zieht insgeheim Nene die Fäden?
Schlafen Peter und Nene – oder kommt Nenes Name zuerst, weil er kleiner ist? – nun beieinander mit dieser selbstverständlichen Liebe, die den Reiz des Verheiratetseins ausmacht? Im Geiste ziehe ich die Schritte nach, die Peter vom hikikomori zum Gutsbesitzer geführt haben. Ursula und ich sorgten uns, was aus Peter werden würde; jetzt scheint sein Lebensweg programmiert, doch ist im Leben je etwas definitiv? Gibt es im Leben von zwei jungen Menschen nicht mehr, was sie auseinanderreisst, als was sie zusammenschweisst? Die Entlein schwimmen auf den See hinaus… braucht Peter Ursula und mich noch?
Ist Depression eine Krankheit oder eine Schwäche wie Selbstmitleid? Ursula findet, dass man sich zusammenreissen kann, wenn man will. Frau Doktor Weiss betrachtet Depression als ein Leiden; sie lebt davon. Haben die Alten nicht Menschen beschrieben, die in einer dunkeln Wolke wahnsinnig herumirrten? Wenn ich mich frage, ob ich mich zusammenreissen könnte, fällt mir nur Peccioli ein, doch fürchte ich mich, Peter und Nene zu stören. Was kann ich dort tun? An meinem Kommentar weiterschreiben? Brauche ich mehr Ruhe, um zu arbeiten, wo es mir in Zürich längst zu ruhig ist? Bin ich nicht überflüssig? Was oder wem nützen Menschen? Wäre die Welt nicht besser daran ohne Menschen? Ich denke an, was Gerolamo Cardano seinem Freund Ottaviano Cusano geschrieben hat:
… so unglücklich ist dieses unser Leben, dass besser ist, nicht zu sein, als zu sein. Einen heiligen Schwur, tue ich Dir, Octavian Cusanus, dass ich nicht annehmen würde, wenn ein Gott mir ermöglichen würde, in den Schoss eines Weibs zurückzukehren, auch wenn ich unter den besten Bedingungen geboren würde, – den besten sage ich.
(...tam infelix est conditio huius vitae nostrae, ut melius sit non esse, quam esse. Sancte tibi iuro, Octaviane Cusane, non accepturum me, etsi quis deus a morte mihi potestatem faceret redeundi in uterum mulieris, atque iterum nascendi optima conditione – optima dico.)
März
"Wenn ich in die RS [Rekrutenschule] gehen würde, könntest Du herkommen und auf Nene aufpassen?" fragt mich Peter am Telefon.
"Warum willst Du in die RS gehen? Musst Du?"
"Nein, ich brauche nicht, aber ich glaube, es wäre gut für mich und gut für Nene."
Was wünsche ich mir mehr, als vier Monate mit Nene in Peccioli zu sein? Ich habe Mühe, meine Freude zu verbergen.
"Ich muss Ursula fragen, und in der Uni… Ist alles in Ordnung mit Nene?"
"Mehr als in Ordnung… ich liebe ihn zu sehr; es macht mich krank."
"Hast Du ihn gefragt?"
"Er ist einverstanden, wenn Du kommen kannst. Ich möchte Dir alles erklären, aber ich will nicht hinter seinem Rücken über Nene sprechen. Du wirst selbst merken, wie er ist. Du kommst bestimmt klar mit ihm."
"Kann ich Dir morgen sagen, ob es geht?"
Eine verschlossene Türe öffnet sich mir. Frau Doktor Weiss kann mich krank schreiben, obwohl ich mich vor Freude nicht mehr deprimiert fühlte. Niemand wird mich vermissen. Ursula sagt, es sei eine gute Idee… verspreche ich mir zuviel? Was soll ich den ganzen Tag in Peccioli? Heidegger über Heraklit lesen? Ist Heidegger nicht ein Verwickler der Nabelschnur? Am Kommentar weiterschreiben? Homer lesen?
Abends im Studierzimmer denke ich über Peter und Nene nach: Was heisst ich liebe ihn zu sehr? Habe ich je einen Menschen zu sehr geliebt? Ein unterdrückter Verdacht sagt mir, du hast deinen Bruder zu sehr geliebt, darum hast du ihn verdrängt. Ich versuche mich an Fotos aus der Zeit zu erinnern, bevor mein Bruder aus unserer Familie verschwand. Ob ich im Garten knie oder im Haus mit einem Spielzeugauto der Bordüre eines Teppichs nachfahre, immer steht wie eine Säule mein Bruder im Bild. Hat Ursula mir nicht in Peccioli vorgeworfen, dass wir Max aus der Familie verbannten, weil er homosexuell war? Bin ich hetero geworden, um dem Zorn meiner Mutter zu entgehen, um anders zu sein als mein degenerierter Bruder? Habe ich ihn verraten? Bin ich ein schändlicher Streber und Konformist, der aus Angst alles richtig machen wollte? Ging ich stets den Weg des geringsten Widerstandes? Verachtete mich Max zu Recht? Studierte ich Altphilologie, weil Griechisch und Lateinisch mir leichtfielen? Hat mich je etwas wirklich interessiert? War ich in Ursula verliebt, oder war die Heirat eine gute Lösung, weil ihr Vater Rektor war?
"Von wann bis wann ist die RS? Ich komme gern nach Peccioli für diese Zeit."
Erstmals habe ich wieder etwas, auf das ich hinleben kann, wenn ich auch zwischendurch in depressive Schlaglöcher stolpere, wo ich mich frage, was ich in Peccioli suche. Warum glaube ich, dass ich Nene verstehen werde oder er mich? Bin ich immer noch verliebt in ihn? Fülle ich die leere Hülle seiner stummen Gegenwart mit einer Fantasie, die dem realen Nene nur äusserlich gleicht? Werde ich Nenes abgewandte Augen ertragen? Können wir mithilfe seines iPhones kommunizieren? In welcher Sprache? Muss ich über Nene wachen, wie Max in meinen vagen Erinnerungen über mich gewacht hat? Was habe ich gespürt, als Nene in meinen Armen lag… Schutzlosigkeit; die Abwesenheit von Verteidigung; der Wunsch, um jeden Preis geliebt zu werden?
"Die RS beginnt am 3. Juli und endet am 1. November."
April
Wenn es mir gut geht, stelle ich mir vor, dass Nene bald in meinen Armen schlafen werde. Geht es mir schlecht, fürchte ich, dass Nene aus meiner Stimme meine Schwäche heraushört. Wie ein Spiegel erscheint mir dann Nene, der mich mir selbst enthüllt. Wie habe ich je glauben können, für Nene zu sein, was Peter ihm ist? Haben die Griechen mich nicht gelehrt, mit meinem Los zufrieden zu sein?
Peter sagt, sie hätten den Pool schon gefüllt, und Nene sei jeden Tag im Wasser. Er spüre die Kälte nicht.
Mai
Kaum brauche ich nicht mehr in die Uni zu gehen, versinke ich in eine Depression. Während Peter in der RS ist, werde ich wie versprochen auf Nene aufpassen, danach... Jeder Tag ist eine sinnlose Anstrengung. Wozu aufstehen, duschen, sich anziehen? Essen, was mir nicht mehr schmeckt? Der Aufenthalt in Peccioli mag wie Ferien sein; doch was will ich dort? Selbst, wenn Nene wieder in meinen Armen schläft, was bringt es mir oder ihm? Ich mag nicht mehr denken, und Gedankenlosigkeit ertrage ich auch nicht. Im Internet lese ich über Fragen, die mich früher interessierten… Warum faszinierten mich Petronius' Lausbuben Encolpius, Giton und Ascyltos? Das Satyricon ist eine pikareske Satire auf den griechischen Roman. Warum genoss ich erfundene Abenteuer erfundener Personen, die danach nicht schlauer sind als vorher? Warum trösteten mich Petronius' Scherze mehr als Senecas Weisheit?
Habe ich in Schule, Gymnasium, Universität eine Person kennengelernt, die mir den Eindruck machte zu wissen, worum es geht? Nur eine Person, die ich überzeugt als erwachsen bezeichnen kann? Wussten die, welche zu reden verstanden, mehr als Nene, der nichts sagt? Verbrachte ich nicht meine glücklichsten Stunden in den Sommerferien auf dem Floss der Badeanstalt Utoquai liegend und nichts denkend?
Ich lese über etruskische Götter, um den numina, dem Geistigen, das ich in Peccioli spüre, näher zu kommen. Meint Heidegger, dass die alten Griechen nicht an ihre Götter glaubten, sondern Götter, Engel, Geister, Dämonen, Teufel als Teile ihres Kosmos' erlebten? Entwickelte sich über die Jahrhunderte die allbeseelt lebende Natur zu einer Welt, in der Feuer, Wasser, Luft und Erde, Pflanzen, Tiere, Meere, Seen, Inseln, Berge, Städte, Völker nur noch in der geistigen Welt von Göttern repräsentiert wurden? Wissen wir mehr als Platons Zeitgenossen? Oder um zu Petronius' Vaganten zurückzukehren: Dank Google Maps hätten sich Encolpius, Giton und Ascyltos nicht schon auf den ersten [erhaltenen] Seiten des Romans in ein Bordell verirrt und vielleicht wäre ihr Schiff nicht gestrandet, aber sonst… unterhalten ihre Abenteuer darum bis heute, weil ihre antike Welt unserer modernen Welt so ähnlich ist?
Juni
Ich arbeite an meinem Kommentar und gleichzeitig schreibe ich eine Packliste für die vier Monate in Peccioli. Wenn es in Zürich regnet, kontrolliere ich im Internet das Wetter in Peccioli. Ursula kauft ein, was Peter für die Rekrutenschule braucht. Über dem Kommentar langweile ich mich zu Tode. Ist die Anthologie mehr als eine Ansammlung schlechter bis mittelmässiger Gedichte angeheiterter Dichterlinge, nicht besser als was die mit Veilchen verzierten Seiten von Jahrhundertwende Poesiealben füllt? Wer zwingt mich zu beenden, was ich in einer anderen Verfassung angefangen habe?
In Peccioli… stelle ich mir vor und merke, dass ich mein Glück von Nene abhängig mache. Er ist ein Teufel und der liebste Mensch der Welt hat Peter gesagt. Warum beziehe ich das auf mich, als wären Peter und ich identisch? Unterschätze ich Nenes Individualität, weil er nichts sagt? Doch nicht nur nach Nene sehne ich mich. Die weissen Feldwege, die Kulissen dunstiger Hügel, die Weite von La Fortuna vermisse ich.
Draussen scheint die Sonne, aber nichts zieht mich hinaus. Ich schaue die Bücherwand an, die aufgeschlagenen Wörterbücher auf dem alten Schreibtisch, was gehen die Bücher mich noch an? Erwarte ich Weisheit, Trost, Unterhaltung? Was wussten die Alten, was wir nicht mehr wissen? Spürten sie noch die Gegenwart der Götter, oder schwatzten sie nur nach, was andere schwatzten? Weisse Felsen in grünen Matten, klares Wasser, mehr Fische, Vögel, Tiere, weniger Menschen. Die Schönheit, die wir heute in den Epen finden, umgab die ältesten Griechen jeden Tag. Bald aber ersetzten geschäftstüchtige Theaterautoren die Sänger der Epen; Petronius' Helden stapfen im städtischen Kot herum.
Juli
Endlich fahren Ursula und ich nach Peccioli.
Ich lese wieder Petronius…
Encolpius fragt eine alte Höckerin, "Frage: Mutter, weisst Du wo ich wohne?" Von so dummer Höflichkeit entzückt… usw.
("Rogo, inquam, mater, numquid scis ubi ego habitem?" Delectata est illa urbanitate tam stulta…)
Geht es mir gleich? Möchte ich fragen, was ich will? Das Navi führt uns Richtung Genua. Um mich zu entblöden, während ich geradeaus fahre, spiele ich mit dem Autoradio, es läuft Hotel California von den Eagles, plötzlich vergesse ich alles und bin an einer Schülerparty in den Siebzigerjahren. "Erinnerst Du Dich?"
"Da war ich noch in der Schule… dass sie das immer noch spielen!"
Achtspur-Tape-Musik junger Menschen, die zuversichtlich in die Zukunft rollen in einem Amischlitten, der noch ein paar tausend Kilometer fährt, bevor er stehenbleibt, vergessen wird und verrostet. "Machst Du Dir Sorgen?"
"Worüber? Über Peter oder Dich oder Nene? Ich glaube, es wird uns allen guttun. Es ist ein Reset: Du brauchst eine Veränderung, Peter nimmt eine Herausforderung an, Nene kriecht hoffentlich aus seinem Schneckenhaus, und ich…, wenn es Dir besser geht… sie haben mich gefragt, ob ich kandidieren möchte…"
"Das wäre fantastisch; ich werde gleich gesund Dir zuliebe… ernsthaft, das würde mich freuen."
"Zuerst muss es Dir besser gehen."
"Peccioli wird mir guttun."
Glaube ich, was ich sage? Während ich Hotel California hörte, schien die Depression weggeblasen und sonnige Monate in Peccioli vor mir zu liegen. Heute abend sehe ich Peter und Nene… kann ich die Depression einfach vergessen? Wieder wie ein Kind werden? Wenn Max… aber Max ist tot. Wenn Peter… aber Peter wird in der Rekrutenschule sein. Wenn Nene… und ich verstehe, – fast komme ich von der Strasse ab – dass Nene zu lieben nicht ist, was ich mir vorgestellt habe. Bin ich bereit, Nene zu lieben, auch wenn er den ganzen Tag mit über die Augen gezogener Kapuze in einer Ecke hockt? Peter ist cool, darum weiss er mit Nene umzugehen. Bin ich cool?
In der Bar einer Tankstelle, sehe ich den Frauen zu, die, als wäre es ein Spiel, eine grosse Faema Kolben-Kaffeemaschine beschäftigt halten, und verstehe wieder einmal, dass die Leute, die am härtesten arbeiten, am wenigsten verdienen. Dabei ist, einen anständigen cappuccino zu bereiten, eine Kunst, für die allein sich lohnt, nach Italien zu reisen. Ich lasse ein Trinkgeld liegen, wie es früher in Italien üblich war. Ich fühle mich glücklich: Ich bin der Uni, Zürich, der Schweiz entkommen. Nun muss ich nur noch – das ist am schwersten – mir selbst entkommen.
Nene drückt meine Hand fünfmal in schneller Folge wie ein Signal. Peter sieht es und lacht, "willkommen in La Fortuna!"
Nene trägt hautenge Shorts und ein enges T-Shirt mit Kapuze, fast wie ein Velorennfahrer.
Nene hat jetzt ein iPad mit einer app für nonverbale Kommunikation darauf, die, erklärt mir Peter, Personen mit ASD (Peter buchstabierte es englisch) verwenden, um sich auszudrücken.
"Was ist ASD?"
"Autism Spectrum Disorder…"
"Doktor Innocenti hat gesagt, Nene hätte ein funktionelles Syndrom…"
"Das überlappt sich, wer das eine hat, hat meist auch das andere."
"Woher weisst Du das?"
"Internet… ich bin jetzt Spezialist für Nene-Medizin. Die Artikel liegen alle im Büro, wenn Du lesen willst."
"Aber wie soll ich ohne Dich mit Nene…"
"…klarkommen? Nene wird Dir sagen, was er braucht oder will. Dafür hat er das iPad. Mit dem iPad kann er sprechen."
Nenes iPad sagt, "ich bin nicht verrückt". Nene schüttelt sich vor Lachen und will nicht aufhören zu lachen. Er macht mir Angst. Ursula schaut mich irritiert an. Kannst Du damit umgehen? fragen ihre Augen. Nene wirft sein Glas um, aber es zerbricht nicht.
Peter zeigt uns den Pool. Nene lässt sich ins Wasser gleiten und spritzt rum. Peter sagt, "er ist immer im Wasser."
Nene ist nicht mehr der Hund-Sklave, der er im Mai war, auf den ich vorbereitet bin. Ich fürchte mich vor ihm.
Peter gibt mir Higashida Naokis The Reason I Jump, "hier hast Du eine Bedienungsanleitung; es ist einfacher als Du denkst. Wenn Du ihm etwas sagen willst, so stupfe ihn an und sage Nene! Wenn er zu zittern beginnt, nimm ihn in die Arme und halte ihn fest; er will gedrückt werden."
Ich lese die Bedienungsanleitung und lerne, dass Nene nicht ein Hundejunge ist, der von mir Futter und Streicheln erwartet, sondern ein intelligenter Mensch, der in einen Körper eingeschlossen ist, der ihm schlecht gehorcht.
Obwohl ich den Verdacht habe, mich auf etwas eingelassen zu haben, scheint, bis Ursula und Peter abfahren, alles unter Kontrolle. Kaum sind sie abgefahren, ist Nene schon im Pool. Ich setze mich in den Schatten und schaue ihm zu, wie er taucht. Ist er Wassermann? Er scheint im Wasser aufzuleben, wie ein Otter oder Biber im Zoo.
In Max' Büro liegen neben dem Computer Ausdrucke von Artikeln über ASD und PTSD. Nene kommt mit einem Tuch um die Hüften herein, setzt sich mit angezogenen Beinen auf das schwarze Le Corbusier-Sofa. Er ist noch nass, aber hat schon riesige Kopfhörer über den Ohren. Sein Tablet sagt, "ich bin nicht verrückt" und er schüttelt sich vor Lachen und will nicht aufhören zu lachen. Habe ich mich freiwillig als Psychiatriepfleger gemeldet? Ich will es mir nicht eingestehen, aber ich sehe kommen, dass Nene mich nerven wird. Peter ist so cool mit Nene umgegangen, dass ich nicht aufpasste, was und wie er es machte. Nene ist mir nicht geheuer. Was wenn er ausrastet? Aber verbrachte ich nicht nach Max' Tod vier Tage ohne Zwischenfall mit Nene?
Nene schnappt sich einen luxuriösen Edelstahl-Kreisel vom Schreibtisch und lässt ihn auf dem Palisander des Pultes rotieren… rotieren… rotieren… Nene scheint glücklich, auch wenn er sich das Tuch über den Kopf gezogen hat. Plötzlich lässt er den spinner umfallen und nimmt wieder sein Tablet, "spazieren".
Es ist Mittag und heiss. Die ersten paar Schritte stolpert Nene seitwärts, dann fängt er sich auf. Er trägt nur Flip-Flops und hüpft und dreht sich beim Laufen. Manchmal lacht er und stösst einen Schrei aus wie ein grosser Vogel im Zoo. Ich fühle mich, wie wenn Ursula mich mit Peter als Baby allein liess. Zusammen mit einem Wesen, das ich liebe, aber nicht verstehe. Ich fürchte mich vor dem Moment, wenn Nene aufgeht, dass Peter nicht mehr hier ist. Versteht Nene, was 'Peter kommt in vier Monaten wieder' bedeutet? Warum ist Peter in die RS gegangen? …ich liebe ihn zu sehr; es macht mich krank. Ist dies ein gültiger Grund oder eine Ausrede, weil ihn Nene nervte?
Um zurückzukehren, zupfe ich Nene am Ärmel. Ich wage, mit ihm Schweizerdeutsch zu sprechen. Er nimmt meine Hand und schlägt sich damit kräftig ins Gesicht. Ich zucke zurück; sein iPad sagt, "schlag mich!" Er rollt sich in meine Arme; wir stolpern rückwärts Richtung Haus. … nimm ihn in die Arme und halte ihn fest; er will gedrückt werden. Ich bleibe stehen, halte ihn fest und drücke ihn an mich. Als ich ihn loslasse, setzt er sich auf den Feldweg und spielt mit seinen Flip-Flops. Ich stupfe ihn an, "Nene, komm essen!"
Er reagiert nicht. Sein iPad sagt, "Peter!"
Auch mein iPad, aber ich habe keins, sagt, Peter! Auf was habe ich mich eingelassen? Ursula und Peter sind jetzt vielleicht vor Milano. Soll ich Peter anrufen und ihn bitten, umzukehren? Ich setze mich neben Nene und sage, "Peter geht in die Rekrutenschule." Wir beginnen gleichzeitig zu weinen. Ich halte Nene fest und konzentriere mich auf den intelligenten Nene, der in diesem Körper gefangen ist. Es gibt nichts anderes, als zu vertrauen, dass… wie hat Max…, wenn Max fünf Jahre mit Nene zusammenleben konnte… der Max, den ich kannte, hatte keine Geduld, während ich… eilt irgend etwas? Gibt es einen Handlungsbedarf? würde Ursula fragen. Wir sitzen da; es ist heiss, der Himmel wolkenlos. Schwitzt Nene in seiner schwarzen felpa? Als ich spüre, dass er ruhig atmet, stehe ich auf, "Nene, komm essen!"
Nene steht auf und stolpert mit.
Nene isst allein in der Küche. Ich esse auf der Terrasse. Wenn ich nichts von Nene erwarten würde, wie ich am ersten Tag einfach hingenommen habe, dass Nene ist wie er ist… Wenn ich ihn einfach sein liesse, wie er ist… ihn mit keiner Norm vergliche… wie ein alien, der hier gelandet ist… Hat Peter mir diese Erfahrung absichtlich eingebrockt, um mich von meiner Depression zu heilen? Oder um Nene von etwas zu heilen, was zwischen Nene und Peter, vorher schon mit Max und Nene schiefgelaufen ist?
Frage: Mutter, weisst Du wo ich wohne? Weiss ich, wer ich bin, was ich will? welche Bewandtnis es mit mir hat? Ich nehme einen Schluck von dem dunkeln Wein… vor mir sind andere hier gesessen, haben diesen Wein getrunken, diese Hügel gesehen, nach mir werden andere hier sitzen… Wie oft ist dieses Haus zerstört und wieder aufgebaut worden? Wie alt sind seine ältesten Fundamente? Zwei-, dreitausend Jahre? Zwischen Vergangenheit und Zukunft gleitet Jetzt wie ein dünner schwarzer Zeiger über eine endlose Zeitskala. Gibt es einen Handlungsbedarf?
Ich trage mein Geschirr in die Küche, meiner Mutter zuliebe, die mich mühsam genug dazu erzogen hat. Dann gehe ich hinauf, lege mich auf das Bett, sinke in Schlaf und träume, ich übersetze IV, 3 einen halb-obszönen, halb-kryptischen Vers der Anthologie. Im Traum ärgere ich mich über Ebener, den deutschen Übersetzer der Anthologie, und erwache empört. Siesta-Stille umgibt mich, alle Fenster stehen offen, an der Decke dreht ein Ventilator. Nene sitzt im Schneidersitz am Boden, schaukelt vor und zurück mit dem Oberkörper; im Rhythmus der Musik in seinen grossen Kopfhörern? Nene schaut mich nicht an; ist seine stumme Gegenwart nicht das Glück, das ich mir gewünscht hatte? Ich schliesse die Augen, denke an den dummen Vers, über den ich im Traum mit Ebener gestritten habe, und falle lächelnd in einen süssen Kinderschlaf.
Als ich aufwache, ist vier Uhr vorbei. Ich komme mir vor wie ein Faulpelz, bis ich mich erinnere, dass ich nichts zu tun habe, ausser auf Nene… wo ist Nene? Und Giuseppe möchte ich fragen, ob ich das Auto benützen dürfe. Ich will in Peccioli eine SIM-Karte kaufen, damit ich ausser Haus auch Internet habe. Kann ich Nene allein lassen?
Ich stehe auf und wasche mein Gesicht. Der Spiegel sagt mir, dass ich in wenigen Wochen wie ein Biobauer aus dem Verzascatal aussehen werde. Wo ist Nene? Ich gehe in Nenes und Peters Zimmer hinüber, dann hinunter und in den Pferdestall, wo ich Giuseppe treffe, der die Pferde auf die Weide lässt. "Habt Ihr Nene gesehen?"
"Um diese Zeit ist er meist im Gym. Macht Euch keine Sorgen!"
"Darf ich das Auto benutzen, um nach Peccioli zu fahren?"
"Der Alfa [Romeo Stelvio] ist für Euch bereit; ich hole die Schlüssel und mache Euch die Garage auf."
Ein wunderbares Auto! Ich fahre nach Peccioli, finde einen Internetladen und kaufe die SIM-Karte. Vor einer pasticceria setze ich mich an ein Tischchen und trinke einen caffè, für den allein sich gelohnt hätte, nach Peccioli zu fahren.
Am Nachbartischchen schreibt ein Greis mit einem Füllfederhalter in ein Schulheft. Ich erinnere mich an diverse Beiträge, die ich Kollegen versprochen habe. Zum Glück geht ohne meine Handbibliothek nichts. Ein Roman, den ich vor langer Zeit mal schreiben wollte, fällt mir wieder ein. Warum nicht? Gibt es einen Handlungsbedarf? Zeit nach Nene zu sehen!
Auf der Rückfahrt… ich fahre langsam mit offenen Fenstern… denke ich an den Roman… möchte ich über Nene schreiben oder einen jungen Mann wie Nene, über einen Mann wie Max, oder wie ich selbst? Frau Doktor Weiss würde sagen, schreiben tue mir gut. Arbeitstherapie? Ich schreibe gern, aber ist Schreiben nicht sinnlos? Wird nicht alles vergessen? die Bücher kommen ins Altpapier, werden geschreddert und zu Packkarton verarbeitet. ¡Olvidar es lo mejor! Vergessen ist das Beste, sagt Baltazar Gracian. Die Landschaft ist so schön, genügt nicht, hier zu sein?
Nene sitzt im Schatten beim Pool, ein riesiges weisses Badetuch über Kopf und Augen, und spielt mit seinem iPad. Ich setze mich auf einen deck chair und will mein [Android] Telefon öffnen, um die zweite SIM-Karte einzusetzen, doch Nene nimmt mir das Telefon und das kleine Werkzeug aus der Hand. Er schält mein phone aus der Hülle, öffnet die kleine Schublade und legt die zweite SIM-Karte ein. Schnell konfiguriert er mein Handy, so dass es Internet über die italienische SIM-Karte benützt. Dann nimmt er sein iPad wieder zur Hand… "ich bin nicht verrückt" Nene schüttelt sich vor Lachen und will nicht aufhören zu lachen. Ich lache mit; erleichtert zu sehen, dass Peter recht hat: Nene ist intelligent.
Soll ich den Pool ausprobieren? Es ist noch heiss und ein wundervolles Licht liegt über den Hügeln. "Nene," frage ich, was mich beschäftigt, "hat Max Dich geschlagen?"
Nene spielt lange auf seinem iPad rum. Löscht er mehrmals aus, was er zu sagen versucht? Endlich antwortet das iPad, "ich gehöre Max".
Ich fühle mich müde und bin froh, dass ich Maria mit Tellern und Besteck klappern höre, "Nene, können wir zusammen essen?"
Keine Antwort.
Ich esse allein auf der Terrasse. Wie selten beschreiben Romane das gewöhnliche Leben gewöhnlicher Menschen! ein Leben ohne cliffhangers. Sorgen wie Ursulas und meine, die für andere belanglos sind. Wie ich jetzt hier sitze und mich frage, was ich bis jetzt getan habe, jetzt tue, noch tun möchte. Ursula tat mir heute morgen leid, auch wenn sie glücklich war, mit Peter zurückzufahren, spürte ich, dass sie sich fürchtet und gleichzeitig freut, vier Monate allein zu sein, sich auf Politik zu konzentrieren, statt Frau und Mutter zu sein. Du wartest nur darauf, ob Nene zu dir ins Bett kommt, sage ich mir. So sehr ich innerlich stumm und in einem neutralen Sinn ratlos bin, so sehr sehne ich mich danach, dass Nene an mich geschmiegt schläft. Ist es die Urangst, allein zu sterben?
In der Liebe sind wir alle Bettler, sagte ein indischer König. Ich trinke einen caffè, lese news auf meinem Tablet. Alles scheint weit weg; ich bin wieder fünfzehn und sehne mich nach einem Menschen, den ich umarmen darf. Damals führte kein Weg zu der Intimität, ohne die mir das Leben nicht lebenswert schien.
Auf dem Tablet beginne ich Giovanni Papinis, Un uomo finito, zu lesen. Ein Mensch ohne soziale Fähigkeiten… das kann ich nachvollziehen. Papini nahm die Toskana, die für mich sonnig und heiss unter einem ewig blauen Himmel liegt, trüb und verregnet wahr. Sind wir nicht an Weihnachten noch draussen gesessen? Ist das Wetter in Florenz anders als in Peccioli?
Ich gehe früh schlafen; lasse die Zimmertüre offen; liege wach; horche auf jedes Geräusch. Vor den Fenstern gleiten Fledermausschatten durch; Nachtvögel schreien. Kaum schlafe ich endlich, weckt mich Nene, der linkisch unter meine Decke kriecht. Ich nehme ihn in die Arme und schlafe wieder ein.
61
Als ich aufwache, ist Nene verschwunden. Durch die offenen Fenster strömt ein klarer Sommermorgen ins Zimmer. Ich fühle mich wie als Kind am ersten Tag der Sommerferien, wenn das Ferienende noch nicht droht. Erstmals seit Jahren gibt es nichts zu tun. Nene… dank dem, dass er bei mir geschlafen hat, sorge ich mich nicht um ihn. Was fühlt er für mich? Reicht es nicht zu wissen, dass Nene da ist?
Ursula fragt mich per Whatsapp, ob alles in Ordnung sei. Peter fragt, wie es Nene gehe. "Herzlichen Dank, alles okay!"
Ich sitze auf der Terrasse, trinke Marias cappuccino, dünngeschnittene Stücke des lokalen salzlosen Brotes mit pecorino; frische Feigen und Trauben, "hat Nene schon gegessen?"
"Der Schatz ist schon runtergekommen; es geht ihm gut. Er will spazierengehen."
Wieder springt Nene mir voraus, wirbelt über den Feldweg, kickt seine Flip-Flops in die Gegend und lacht seinen Vogelschrei. Wenn er sich schnell dreht, fliegt ihm die Kapuze ab dem Kopf und ich sehe seine Augen, die mitdrehen. Selbst, wenn er mit offenem Mund lacht, scheint sein Gesicht "Entschuldigung!" zu sagen. Wofür?
Am Ende des Gutes setzen wir uns auf eine Stützmauer. Nenes iPad sagt, "schlag mich" und ich sehe, dass auf dem iPad darunter udari me steht. Er nimmt meine Hand und schlägt sich damit grob ins Gesicht, "schlag mich".
"Nene, warum willst Du, dass ich Dich schlage?"
Nach langem Herumspielen sagt sein Tablet, "warum?"
Wie hat es Peter geschafft, mit Nene zu kommunizieren? Oder hat Peter es gar nicht geschafft und Nene will es so und Nene will es nicht sind, was Peter will? Hat Peter uns nicht an ihre Hochzeit eingeladen, weil er Nene manipuliert? Aber warum geht Peter in die Rekrutenschule? Was will er mir zeigen?
"Nene, warum willst Du, dass ich Dich schlage?"
Er nimmt wieder meine Hand, ballt sie zur Faust und schlägt sie gegen seinen Kopf. Er lässt mich los und fingert auf seinem Tablet rum, "ich will fühlen".
"Nene, was willst Du fühlen?"
"Ich will fühlen". Er nimmt wieder meine Hand und schlägt sie gegen seinen Kopf.
"Nene, was willst Du fühlen?"
"Schlag mich!"
"Nene, komm wir gehen zurück!"
"Schlag mich!" Nene bewege sich nicht. Kann ich ihn einfach hier sitzenlassen und gehen? Käme er, wenn ich ihn schlage?
Ein alter Bauer in einem rostigen [Fiat] Panda fährt vorbei. Nene steht auf und schaut dem Auto nach. Dann packt er meine Hand und zieht mich seitwärts stolpernd auf den Weg nach Hause. Seine Hand zu halten, macht mich glücklich. Nach ein paar Schritten lässt er meine Hand los und tanzt wieder voraus mit seinem Vogelschrei. Führt Nene mich an der Nase rum? Nene ist ein Teufel und der liebste Mensch der Welt…
Ich verstehe, dass ich Nene nur aus ihm verstehen kann. Gibt es einen Handlungsbedarf? Ein wunderbarer Tag, blauer Himmel, leichter Wind macht die Sonne erträglich, rund um uns Felder, einige schon abgeerntet, auf anderen steht noch der Weizen. Nene tanzt lachend, ich lache auch. Wieder überkommt mich die Ruhe der Landschaft. Was gibt es zu denken? Gedanken! denke ich mir, und lasse den Halbgedanken ihren Lauf. Am Wegrand und im Weizen blüht der Mohn. "Nene, bist Du glücklich?"
Ich wiederhole es ein paarmal, bis er stehenbleibt und auf dem Tablet rumtippt, "glücklich", und weitertanzt.
"Ich bin auch glücklich."
Ich denke an Ursula in ihrem Amt und Peter… die ersten Tage der Rekrutenschule sind die schlimmsten. Warum wollte Peter in die RS gehen? Hat er gemerkt, dass ich mich in Nene verliebt habe?
Mit unheimlichem Lärm fliegen drei F-irgendwas über unsere Köpfe. Nene beginnt zu zittern, hält sich die Ohren zu, und schlägt seine Fäuste gegen seinen Kopf. Ich umarme ihn mit Gewalt und halte ihn fest. Er wehrt sich, aber ich bin stärker. Ich bringe ihn dazu, sich hinzusetzen, dabei halte ich ihn fest, wie man einen Tollwütigen festhält. Er weint, ich weiss nicht, ob vor Wut oder wegen der Flugzeuge. Sein ganzer Körper ist in Bewegung, kämpft mit sich selbst und mit mir. Ich fühle mich wie Laokoon. Nach, was sich wie eine Viertelstunde anfühlt, beruhigt er sich etwas. Was, wenn die Flugzeuge im Tiefflug gestern durchgeflogen wären, während ich in Peccioli war?
Als Nene wieder ruhiger ist, sagt sein Tablet, "schlag mich! schlag mich! schlag mich!" Er versucht sich mit meiner Hand zu ohrfeigen, doch ich widerstehe. "Nene, warum willst Du, dass ich Dich schlage?"
Aber ausser "schlag mich! schlag mich! schlag mich!" ist nichts aus ihm rauszubekommen.
Die Anstrengung und die beginnende Hitze setzen mir zu. Ich habe keine Ahnung, wie ich mich verhalten soll. Ich nehme mir vor, Doktor Innocenti zu fragen, was das richtige Verhalten sei, wenn Nene ausrastet.
Irgendwie stolpern wir nach Hause. Nervt er mich? oder geniesse ich, seine Hand zu halten? Wenn Nene ein Wolfshund wäre, hätte er diese zwei modi Wilder Wolf und Zahmer Hund. Bettelt er, geschlagen zu werden, weil er einen Meister braucht? Ich spüre, dass nicht viel fehlt, wütend zu werden und Nene zu schlagen. Haben Max und Peter ihn geschlagen? Will Peter mir zeigen, dass ich auch nicht anders kann? auch nicht besser bin?
Während der Siesta kommt Nene nass vom Pool in mein Zimmer und spielt auf dem mit grossen Tonplatten belegten Fussboden mit dem Kreisel. Ich denke, ich kann nicht schlafen, und schlafe gleich ein. Spielt Nene in meinem Zimmer, weil er sich entschuldigen will? Später lese ich auf dem Handy die üblichen schlechten Nachrichten. Peter schickt mir ein Bild in Rekrutenuniform. Ich zeige es Nene, aber er reagiert nicht. Fünf Minuten später sagt sein iPad, "Peter".
Ein paar Seiten in der Bedienungsanleitung; verstehe ich, was ich lese? Wie hat Peter es geschafft, mit Nene klarzukommen? In meiner Erfahrung von dreiundfünfzig Lebensjahren finde ich nichts, was mich auf Nene vorbereitet. Versteht er, was ich ihm sage, und kann nur nicht antworten? Hat Max ihn wie einen Hund gehalten? Ist Nene wie ein intelligenter Menschenaffe oder wie ein Kindergartenkind? Ist Peter als kleines Kind mal wie Nene gewesen? Oder ist Nenes Behinderung wie eine Geisteskrankheit, wie Schizophrenie? Im Internet finde ich keine Erklärung. Die Bedienungsanleitung hat ein dreizehnjähriger nicht-sprechender autistischer Junge geschrieben, dessen Eltern solider Mittelstand oder besser sind, gebildet und unendlich geduldig. Selbst wenn die Übersetzung die Verhältnisse vergoldet, ist Higashida Naoki Welten entfernt von einem behinderten Buben, mit dem niemand Mitleid oder Geduld hatte und der todkrank mit einem Sack in der Hand sich zum Stehlen in ein Landhaus einschleichen musste.
Nene schläft wieder bei mir. Mitten in der Nacht weckt mich, dass Nene sich bewegt. Ohne die Augen zu öffnen, merke ich, dass er onaniert. Seine Anstrengung, sein abgehackter Atem, die Anspannung erregen mich. Ich stelle mich schlafend. Nene ist schwul. Sag Mami nichts! Seit dem Erlebnis mit vierzehn oder fünfzehn in einem Klassenlager ist mir nichts ähnliches passiert.
Diskret ist Nene nicht, absichtlich oder unabsichtlich; es wäre schwer, nicht aufzuwachen ab seinem Gezappel. Nachher weint er sich erschöpft an mich geschmiegt in Schlaf. Ist das, was Nene ist ein Teufel oder nein, der liebste Mensch auf der Welt bedeutet? Ich liege lange wach. Es ist normal, sage ich mir, höchstens ein bisschen schamlos.
August
Nene will jeden Tag das gleiche tun. Im Pool tauchen, mit dem Kreisel spielen, spazieren, allein essen, im Pool tauchen, mit dem Kreisel spielen, während ich am Nachmittag schlafe, nachts… Ich spreche zu ihm, ungewiss, ob er versteht. Beruhigt ihn meine Stimme? Ich lese die Artikel über Autismus, die Peter ausgedruckt hat; ich telefoniere mit Peter… Peters coolness fehlt mir. Doktor Innocenti empfiehlt mir, klare Grenzen zu setzen und verrät, dass Max streng gewesen sei. Nene, sagt Doktor Innocenti, leide unter Hyposensitivität; er merke nicht, wenn er sich verletze. Autismus hält Doktor Innocenti für eine Mode.
Ich glaube zu verstehen, dass Nene im Augenblick lebt, Empfindungen und Erinnerungen ausgeliefert, und von einer Kindheit konditioniert, in der Bestraftwerden im Vordergrund stand. Ich wundere mich nicht mehr, wenn er mich manchmal nicht zu erkennen scheint, mich beim Spazieren vergisst. Sein gelegentliches Ausrasten geht vorbei. Das Wichtigste, sage ich mir, wenn er mich nerven will, ist Nenes Verhalten nicht auf mich zu beziehen; ihn zu lieben, wie er ist.
Weil mein Laptop nicht will, benütze ich Max' Desktop Computer. Es hat nur einen offenen Account für Peter. Ich versuche mein Microsoft Konto aufzumachen und frage Peter per Whatsapp nach dem Administrator-Passwort. Während ich auf eine Antwort warte, verliere ich mich im Desktop. Plötzlich bin ich in einem Ordner Max_Privat mit Bildern, die ich nicht sehen will. S/M, BDSM, Sklaven- und Folterszenen, Bilder mit Nene als Opfer am Andreaskreuz… Hat Peter diese Bilder gesehen?
Eine Woge von Mitleid schwappt über mich. Verstehe ich Nene besser, oder Peter? Den Nene, in den ich mich letztes Jahr verliebt habe, verliere ich in diesem Augenblick. Ich sehe nur noch das Kind, das für seine Behinderung bestraft wird. Diese Nacht weine ich mit Nene, als er nachher zu weinen beginnt.
Endlich hat Peter seinen langen Auslandschweizer-Urlaub. Er kommt mit Ursula. Ich erwarte, dass er gleich mit Nene im Zimmer verschwindet, doch Nene bleibt im Pool und zeigt nicht, dass er Peter wiedererkennt. Ursula fragt mich, was sie mich schon am Telefon jeden Tag gefragt hatte, "was macht Ihr den ganzen Tag?"
"Jeden Tag dasselbe; Nene will es so." Dass ich meine Bücher kaum berühre, weiss sie schon.
Peter fragt mich, "und, wie geht es Dir? Hast Du immer noch Depressionen?"
"Keine Zeit für Depressionen. Hast Du Nene nicht vermisst?"
"Mehr als vermisst. Im zweiten Anlauf will ich vieles richtig machen, was ich falsch gemacht habe."
"Hast Du ihn geschlagen?"
"Ja, darum bin ich in die RS gegangen. Nene will es, aber ich will es nicht. Und Du?"
"Es wäre bald so weit gekommen; Nene kann nerven, doch dann habe ich die Bilder gesehen und seit da ist er für mich nur noch ein armes Opfer…"
"Welche Bilder?"
"Ich habe einen Ordner Max_Privat gefunden…
"Ich wollte alles löschen, Entschuldigung, verstehst Du jetzt, dass ich mich wie ein Verbrecher fühle?
Nene schleicht sich dem Geländer entlang auf die Terrasse und setzt sich neben Peter auf den Boden. Er tippt auf seinem iPad rum, "Peter", dann beginnt er zu lachen und zu weinen durcheinander. Peter setzt sich neben ihn auf den Boden und drückt ihn an sich.
Später fragt Ursula Nene, "Nene, wie geht es Dir?" aber Nene nimmt es nicht wahr. Nene und Peter gehen spazieren, obwohl es heiss ist. Wir hören Nenes hohen Vogelschrei sich entfernen.
Ursula fragt mich, "was hat Peter gesagt?"
"Ob ich noch deprimiert bin."
"Bist Du noch deprimiert?"
"100% arbeitsunfähig mindestens bis zum Ende der Rekrutenschule. Nene lässt einem keine Zeit, deprimiert zu sein. Und Du, wie läuft es mit der Politik?"
"Wenn bis Anfang September drei Altherren vom Studentenverein sterben, komme ich auf den letzten Listenplatz, der noch eine Chance hat, gewählt zu werden. Ich lasse mich überraschen."
"Nimm es nicht tragisch. Ich würde am liebsten hierbleiben."
"Wenn Du bleibst, komm ich auch, wenn ich darf…"
Es ist ein Traum.
Die vier Tag sind Peter und Nene wie sie vorher gewesen sind und doch spüre ich, dass sich etwas geändert hat. Peter ist sicherer und Nene lacht mehr, fröhlicher.
Peter sagt mir, "in Zürich konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich je glücklich sein könnte. Ich hätte irgendeine Stelle annehmen müssen, die mich nicht interessiert. IT oder so, und jetzt bin ich Nenes Mann, wie eine Frau, die einen reichen Bauern geheiratet hat, und es ist mir völlig egal. Ich will, dass Nene glücklich ist. Wenn wir keinen Blödsinn machen, haben wir genug Geld. Ich will lernen, alles selbst zu verwalten, damit wir von niemandem abhängig sind."
Wir gehen zusammen ans Meer. Peter zurrt Nene auf dem Rücksitz mit dem Sicherheitsgurt fest und hält während der Fahrt einen Arm um Nenes Schultern. Wir nehmen trockene Kleider für Nene mit.
Nene spielt mit Peter im Wasser. Es hat kaum Wellen, aber Nene spritzt lachend und vogelschreiend im Wasser herum. Niemand scheint zu bemerken, dass Nene mit felpa und in Trainingshosen badet und Peters Hand hält.
Ursula sagt, "Peter ist glücklich mit Nene. Ich kann Nene gern haben, weil er Peter glücklich macht."
Beim Umziehen am Strand zieht sich Nene schamlos aus und sein perfekter Körper, von der Behinderung unberührt, griechisch schön, brennt sich mir ein. Die nassen Haare lassen seinen Kopf kleiner erscheinen, amselhaft mit schwarzen Federn. Auf der hellen Haut sind die Pockennarben und die Striemen auf seinem Rücken nicht zu übersehen. Ursula sagt, "ich verstehe nicht, wie man jemand Hilfsbedürftigen schlagen kann."
Peter und ich antworten nicht, denn wir wissen Nene ist ein Teufel oder nein, der liebste Mensch auf der Welt… Der Teufel will bestraft und der liebste Mensch geliebt werden. Peter hat von mir zwei Ohrfeigen erhalten; eine als er mal auszurasten drohte und ich nicht mehr weiterwusste, und eine verdiente, als er einem ausgestossenen Klassenkameraden die Hand nicht geben wollte. Von meinem Vater habe ich wenig Schläge erhalten, von Max umso mehr. Dass Max Nene geschlagen hat, will ich nicht verstehen, aber ich verstehe es, weil Nene einen zur Verzweiflung treiben kann.
Nach ein paar Sekunden ist die Szene vorbei. Die trockene felpa über die Augen gezogen, der schlanke Körper verhüllt. Schläft Nene nackt bei Peter? Nun, dass ich Nene nackt gesehen habe, sehne ich mich, dass er wieder in meinen Armen liege.
Dass herrliche Auto zu fahren, ist eine Freude. Der Wagen und die Strasse scheinen füreinander geschaffen. Ursula sitzt neben mir, Peter hält Nene fest. Nene geniesst, Auto zu fahren, aber die Fülle der Eindrücke verwirren ihn. Zuhause, kaum aus dem Auto, beginnt Nene mit den Händen zu flattern, dann laufen Peter und Nene davon und kommen lange nicht zurück.
Ursula sagt, "ganz normal ist Nene nicht."
"Natürlich nicht, er ist anders. Dieses Anders ist, was Peter glücklich macht. Einen Menschen zu haben, der ihn braucht, und ihn dazu bringt, in der Gegenwart zu leben."
"Wenn es Peter glücklich macht… Ich hätte nie gedacht, dass Peter so viel Geduld hat."
Ohne uns abzusprechen, haben Peter und ich uns verschworen, Ursula Nene der liebste Mensch auf der Welt vorzuführen.
Peter fragt mich, "wie geht es mit Giuseppe?"
"Ich bin so mit Nene beschäftigt, dass wir kaum zum Sprechen kommen. Giuseppe fürchtet immer noch, dass Ihr alles umstellen wollt und sie wegschickt."
"Weil ich nicht gut Italienisch kann. Ohne ihn und Maria sind Nene und ich verloren. Ich will nichts umstellen, nur ausprobieren, ob es stimmt, dass es kein Unkraut gibt, nicht wegen der Landwirtschaft; davon verstehe ich nichts, sondern wegen Nene…"
"Nene will es?"
"Nene ist in unserer Welt wie ein Unkraut… Die Nazis hätten ihn liquidiert. Wenn es kein Unkraut gibt, dann ist auch Nene kein Unkraut, sondern nötig für eine grössere Harmonie, die wir nicht sehen."
"Das ist ein schöner Gedanke; Du denkst weiter als ich. Ich bin stolz auf Dich." Peter hat einen guten Kern. Ursula und ich haben nicht alles falsch gemacht.
Während der siesta denke ich weiter daran, was Peter gesagt hat. Eine Welt ohne Unkraut…
Dass Licht irgendwie besser ist als Dunkel und, dass gut sicher gegenüber schlecht zu bevorzugen ist, ist ein westlicher Glaubensartikel. Aus dem folgt unser Drang zu erobern, was als schlecht betrachtet wird, und mit Gewalt die Welt zu verändern für einen kurzzeitigen Vorteil. Doch ch'i, kosmische und darum universelle Energie, die sich in yin und yang manifestiert, erscheint in allen Gegensätzen. Die zwei sind untrennbar, und gut braucht schlecht, um zu existieren, wie Licht Dunkel braucht: das eine kann nicht ohne das andere existieren. Im einen ist der Samen des anderen, wie wir im yin/yang Symbol sehen können.[4]
Die griechischen Götter vereinten in sich Kreation und Destruktion. Apoll ist Gott der Heilkunst und der Pest; Artemis ist Schutzherrin der Tiere und Göttin der Jagd; jeder Gott steht für eine Ordnung und ihre Störung.
Haben Behinderte eine Funktion in der Schöpfung? Oder ist Peters rührender Gedanke ein billiger Trost? Hat der gleiche mathematische Zufall Nene behindert zur Welt kommen lassen, dann arm und jetzt reich gemacht? Wie konnten die alten Griechen gleichzeitig an Zufall, eine Glücksgöttin und ein von Moiren unveränderbar festgesetztes Schicksal glauben? Warum opferten sie Fortuna bzw. Tyche, wenn alles entweder vom Zufall oder vom Schicksal abhing? Wie konnten die Alten gleichzeitig drei sich gegenseitig ausschliessende Gesetze glauben?
Schreie aus Richtung von Peters und Nenes Zimmer unterbrechen meine Gedanken. Ursula will nachsehen gehen, was los ist, doch ich halte sie zurück. "Nene regt sich auf, weil er überlastet ist; zusätzliche Personen machen es schlimmer. Peter versteht, mit ihm umzugehen."
"Hast Du das auch schon erlebt?"
"Ich habe geglaubt, ich müsse ihn festhalten. Jetzt weiss ich, dass er sich von selbst beruhigt, wenn man ihn in Ruhe lässt."
"Und was ist mit der Pferdedecke in ihrem Zimmer?"
"Unter der verkriecht sich Nene, wenn er sich aufregt."
Nachts denke ich über Nene nach. Was antwortet man einem behinderten Kind, das fragt, "warum bin ich behindert?" Wissenschaft, Gene… Warum ist ein anderes Kind nicht behindert? eines reich und hübsch, ein anderes arm und hässlich? Ist das fair? In der Antike war Ungleichheit die Regel, Gleichheit die Ausnahme. Wer blind geboren wurde, dem hatten die Götter es bestimmt. Behinderte Kinder wurden nach der Geburt erstickt oder den wilden Tieren zum Frass ausgesetzt.
Ursula, Peter und ich sprechen mit Giuseppe und Maria… Ich spüre, dass sie die Jungen fürchten, die alles umkrempeln wollen. Peter kann sich auf italienisch noch nicht genau ausdrücken. Zum Glück spricht Ursula fliessend italienisch; eine Mutter hat mehr Gewicht. Wir einigen uns darauf, dass Peter sein Experiment auf eine Hektare beschränkt und Giuseppe sonst vorläufig nichts ändert. Dann gibt es Reparaturen, Landmaschinen, Pachtverträge zu besprechen. Ich verstehe, dass Giuseppe und Maria ernst genommen werden wollen. Peter ist noch jung. Ich verspreche, mich um die Hektare zu kümmern, bis Peter aus der RS zurückkommt.
Als Teil von über 200 Hektaren scheint eine Hektare klein, doch als Giuseppe und ich das Feld ausstecken und ich beginne, Klee zu säen und Stroh zu verteilen, merke ich, dass ich mir eine Wochenarbeit vorgenommen habe. Es geht mir wie einem der städtischen Studenten, die bei Fukuoka Masanobu natürliche Landwirtschaft lernen wollten und nach wenigen Tagen aufgaben. Nene sitzt anfangs am Rande des Feldes und schaut mir zu, doch dann entdeckt er, dass ihm Säen und Stroh verzetteln Spass macht. Zu zweit sind wir am Donnerstag fertig. Giuseppe lacht; was er dank Traktor und Pflug in einer Stunde leistet, schaffen Nene und ich mit Blasen an den Händen in vier Tagen. Das ist meine erste Erfahrung mit Nicht-Pflügen. Aber Nene ist fröhlich und ich fühle mich am Freitag, als hätte ich eine Fitnesswoche in den Bergen hinter mir. Wird der Klee wachsen?
Nach der Landarbeit spiele ich mit Nene im Pool. Ich bereue nicht mehr, dass Peter den Pool bestellt hat. Nenes nasser Körper ist schön. Beim Auftauchen hält sich Nene an mir und ich vermisse Peter, wie er mit zehn war.
Statt an der Anthologie zu arbeiten, lese ich im Internet über die Erziehung von [US] autistischen Kindern. Die Verhaltenspsychologen befürworten eine aufwendige und kostspielige Dressur mit oder ohne Schläge und Elektroschocks, um ein normales Leben zu leben, die [US] Autisten selbst behaupten ein Recht, auf Kosten der Gesellschaft mithilfe von Helfern und Hilfsmitteln ihre Behinderung zu leben. Es geht ausschliesslich um autistische Kinder der Mittel- und Oberschicht oder versicherte Kinder. Über arme und nicht versicherte autistische Kinder wie Nene kein Wort. Autismus ist ein Geschäft. Kinder wie Nene werden als minderbemittelt und schwererziehbar versorgt, wenn der Staat für sie bezahlt, wenn nicht, landen sie auf der Strasse.
Wenn eine Dressur mit Elektroschocks Nene heilen könnte… möchte er ein normales Leben leben? wäre er glücklicher? würde Peter ihn noch lieben?
Während der siesta träume ich, ich würde squatters erlauben, in einem kleinen Haus zu wohnen, dass mir [im Traum] gehört. Im Traum fühle ich mich akzeptiert, als würde mir, dass ich älter bin bei diesen vernachlässigten jungen Menschen Autorität verleihen. Ich erwache mit neuer Zuversicht, die ich mit Nene teilen will. Hat Maria nicht gesagt, um diese Zeit sei Nene meist im Gym? Ich gehe zum ersten Mal die Treppe in den Keller hinunter. In dem bescheidenen Kraftraum brennt Licht, eine Türe im Hintergrund steht offen. Ich höre schluchzen…
Es ist der Folterkeller, den ich schon von den Bildern kenne. Nene liegt nackt am Boden und weint. Vermisst er Max? Ich gehe rückwärts raus und flüchte erst in mein Zimmer, dann gehe ich allein spazieren. Etwas, was in mir bröckelte, bricht zusammen: Habe ich in der Antike mit ihren Sklaven und Gladiatoren die Grausamkeit gesucht? Will ich Nene an die Wand gekettet sehen? Will ich hören, wie er bettelt, geschlagen zu werden? Bin ich wie Max? Wenn Nene geschlagen werden will, warum darf man ihn nicht schlagen?
Über mir dräuen graue Wolken, als komme Regen. Mir dreht der Kopf. In den letzten Tagen habe ich mir überlegt: Warum wird einer behindert geboren? Ich weiss es nicht. Soll man ein behindertes Kind zur Normalität dressieren, wenn es möglich ist? Ich weiss es nicht. Darf man einen Masochisten schlagen? Ich weiss es nicht. Bestimmt das Horoskop unser Schicksal oder ein launischer Gott oder der Zufall? Warum leben wir? Wozu leben wir? Wie ist es möglich, dass es etwas gibt? Hat es je nichts gegeben? Wie konnte aus Nichts Etwas werden?
Ich bin froh, als die ersten Regentropfen fallen. Den Fragen laufe ich davon nach Hause. Ich sehe Ursula und mich, Nene und Peter alt werden, ohne etwas zu verstehen. Wir und sie werden sterben, wie Max gestorben ist. Erstmals empfinde ich Mitleid mit Max. Wenn Max Nene liebte, schmerzte ihn, Nene zu hinterlassen? Aber Max starb plötzlich, nicht mit einem weinenden Nene am Spitalbett.
Nach der Habilitation dachte ich, dass in den Altertumswissenschaften nur ein paar Spezialgebiete zu erforschen übrig waren. Ich sah eine bunte Karte des Wissens mit ein paar weissen Inseln terra incognita, unerforschten Landes. Nun scheint mir, dass ich viel Belangloses gelernt, aber die wesentlichen Fragen des Lebens umtrippelt habe. Wir meinten, schlauer zu sein als unsere Eltern, die sich vermutlich auch für schlauer als ihre Eltern hielten. Nun sehe ich ein, dass die Karte weiss ist mit ein paar erforschten Fleckchen terra cognita. Von den wichtigsten Fragen wissen wir bestenfalls, warum wir sie nicht beantworten können.
Nene und ich wollen im Garten arbeiten, aber es gibt nichts zu tun. Gerne würden wir hacken und jäten, aber no-till verbietet es. Wir erforschen den eigenen Wald, stöbern Wildschweine auf, finden Stachelschweinstacheln und Pilze, die ich nicht kenne. Heute heitern mich Nenes Sprünge auf. Ist Glück, wie Nene vogelschreiend durchs Leben zu tanzen, nicht wissend, dass man nichts weiss?
Peter hat recht: Ich komme klar mit Nene, aber nicht nur das: bin ich in Zürich wie ein alter Mann herumgeschlichen, spüre ich jetzt nur noch gelegentlich einen Anflug von Depression. Im Pool versuche ich, Nene schwimmen zu lehren. Er stellt sich an wie die wasserscheuste Katze. Die [Autismus] Literatur hat recht, Nene würde so willig ertrinken, als ob er ins Reich der Nereiden heimginge. Eine Schwimmweste zu tragen, begeistert ihn. In Viareggio entdeckt er in einem Laden einen Neopren-Anzug mit kurzen Ärmeln und Beinen, den er nach dem Anprobieren nicht mehr ausziehen will. Neopren und Spandex faszinieren ihn. Ich kaufe ihm compression shorts.
September
Der Klee wächst… und vieles mehr wächst auch. Das wilde Feld zieht Schmetterlinge an. Nene und ich möchten jäten und hacken, während Giuseppe stolz mit dem Raupentraktor arbeitet. Nichtstun fühlt sich nutzlos an. Mein Schulgarten in der Primarschule schwebt mir vor mit Rüben, Bohnen, Salat und Tomaten. Doch für Setzlinge ist es zu spät. Später im Jahr könnten wir Oliven- und Fruchtbäumchen pflanzen, sagt Giuseppe. Selbst Ursula versteht mehr von Gartenbau als ich. Ich blättere Max' Gartenbücher durch. Alle empfehlen giessen, jäten, häckeln… Schneckenkörner, Schneckenzäune, Vogelnetze, Vogelscheuchen… machen Nene und ich alles falsch?
Am Meer lernen wir einen kahlköpfigen Schweizer kennen, der in Volterra wohnt. Rolf Ernst, ein Schriftsteller in meinem Alter, von dem ich gehört, aber nichts gelesen habe. Er vergafft sich gleich in Nene, der in seinem Neopren-Anzug im niederen Gist liegt. Natürlich weiss der Schweizer alles über Autismus, das heisst nichts. Wir sitzen unter einem Sonnenschirm und sprechen über Petronius. Rolfs Ansichten sind unterhaltend: er liest den erhaltenen Text des Satyricon wie ein absichtlich fragmentarisches Werk. Weil es mir langweilig ist, lade ich ihn ein, uns in La Fortuna zu besuchen. Auf dem Parkplatz sehe ich, dass er einen grünen Panda fährt, das Giugiaro-Sammlerstück aus den Achtzigerjahren.
In La Fortuna ergibt sich, dass Rolf Max gekannt und gewusst hat, dass es einen Jungen gab, den Max liebte. Von Autismus versteht Rolf nicht mehr als die gängigsten Vorurteile. Während ich versuche, ihm zu erklären, was ich aus Peters Artikeln und aus der Bedienungsanleitung gelernt habe, sehe ich ein, dass ich zufrieden bin, mit Nene einen Tag nach dem anderen heil zu überstehen.
Rolf spricht begeistert von seinen schwulen Liebesromanen. Max hat Rolf erzählt, dass ich verheiratet bin und einen Sohn habe. Rolf kennt die homoerotischen Gedichte der Anthologie; griechisch hat er nicht gelernt; Lateinisch vermutlich mittelmässig, aber er ist belesen in mehreren Sprachen.
Aus Langeweile frage ich Rolf über Max aus. Auch Rolf weiss nur Gutes über Max zu berichten, "der Junge war krank und machte Max Sorgen. Für Max drehte sich alles um seinen ragazzo. Max gab viel Geld aus für den Jungen."
Ich sage nichts. Wäre ohne Max Nene nicht tot?
Ich erwähne, dass Peter und Nene verheiratet sind.
"Wie romantisch! Ich möchte Peter gerne kennenlernen."
Ich bereue, über Peter und Nene gesprochen zu haben. Ist das Schöne an Peters und Nenes Liebe nicht, dass ihre Beziehung unwahrscheinlich, überraschend ist, aus dem Herzen kommt? Rolf würde es nicht verstehen. Besser über das Wetter sprechen und Politik!
Ich geniesse mit jemandem auf deutsch über Dinge zu diskutieren, die mich interessieren, während Nene im Pool rumspritzt, doch Nene erlaubt mir nicht, Spaziergänge auszulassen oder die Zeit abzukürzen, die er in meinem Zimmer während der siesta mit dem Kreisel spielt. Der liebste Mensch der Welt will seinen Stundenplan eingehalten haben. Auch das ist gut, denn es hält Rolf von Nene fern. Rolf verfehlt nie zu sagen, dass Nene hübsch sei; dass er jetzt Max verstehe…
Auf der Terrasse verfallen Rolf und ich in eine Diskussion über Seelenwanderung. Ich gebe zu, dass Wiedergeburt die Frage Warum wurde ich blind geboren? elegant löst, aber nicht besser als die Erklärung von Ebbe und Flut durch Gott Shivas Tanz auf einem gigantischen Schwamm. Ich gebe zu, von Inderinnen gelesen zu haben, die sich an eine frühere Geburt erinnern. Ich gebe auch zu, dass es alte Griechen gab, die an Metempsychose glaubten, aber riecht Seelenwanderung nicht insgesamt nach Hermann Hesse und Tiger von Ischnapur? Mit der Begeisterung des Autodidakten behauptet Rolf, die alten Inder hätten bei philosophischen Fragen immer zuerst abgeklärt, ob es eine Antwort gäbe, oder mehrere, oder keine. Schliesslich landen wir beim Sinn des Lebens. Kommt als nächstes die Quadratur des Kreises und das perpetuum mobile? Dass Rolf die Tagebücher Amiels kennt und de Saussure gelesen hat, versöhnt mich wieder.
Während wir diskutieren, spielt Nene im Wohnzimmer mit seinem Kreisel. Die Türen stehen offen.
Nachdem Rolf gegangen ist, gestehe ich mir ein, dass Autodidakten nicht grundsätzlich unrecht haben. War Schliemann nicht Autodidakt? Winkelmann und Goethe haben vieles von Autodidakten, die herauspicken, was sie interessiert und die systematische Bildung vernachlässigen. Ich denke an Autisten, die passioniert ihre Interessen verfolgen. Das macht mir Rolf sympathischer, aber nicht Seelenwanderung und die angeblichen Erkenntnisse indischer Philosophen. Ich habe eine quasi angeborene Abneigung gegen Theosophen, Anthroposophen, Spiritisten, die gewichtige Werke über die letzten Fragen schreiben. Gibt es eine Frage, deren Antwort tausend Seiten benötigt? Ist die Antwort nicht meist, Alles Ist Eins?
Nenes iPad weckt mich aus meinen Gedanken, "ich verstehe".
"Nene, was verstehst Du?"
Bis jetzt hat Nene nur einzelne Bilder auf seinem iPad angeklickt. Er braucht ein paar Minuten, um "Ich war ein Hund" zu buchstabieren.
"Nene, hast Du verstanden, was wir gesprochen haben?"
[Minuten später]
"Ja"
"Nene, wenn ich mit Dir spreche, verstehst Du mich?"
[Minuten später]
"Ja"
"Und Peter verstehst Du auch?"
[Minuten später]
"Gut"
"Und Max?"
[mehrmals ausgelöscht]
"Ich bin sein Hund"
Nene spielt mit seinem Kreisel. Wenn Nene Max nichts nachträgt, was geht Peter, Ursula und mich an, was zwischen Max und Nene geschehen ist? Die Zikaden kreissägen; meine Gedanken verstummen.
Am nächsten Tag nach dem Frühstück kommt Nene zu mir und setzt sich eng an mich. Sein iPad sagt, "wenn Du mich hältst, kann ich schneller tippen"
Ich halte seinen Arm und sage, "Nene tipp!"
"Ich wurde im Krieg geboren
Ich weiss nicht was aus meiner Mutter und meinem Vater geworden ist
Schlechte Menschen zwangen mich zu betteln und zu stehlen
Sie schlugen mich jeden Tag
Sie verkauften mich an andere schlechte Menschen
Sie brachten mich nach Italien
Sie schlugen mich jeden Tag
Viele Männer machten Sex mit mir
Ich wollte sterben und schlief ein
Maria fand mich
Max hat mir das Leben gerettet
Ich bin gerne sein Hund"
"Wo bist Du geboren?"
"Ich sage es nicht
Es ist gefährlich
Sie wollen mich töten "
"Wer?"
"Schlechte Menschen"
"Liebst Du Peter?"
"Peter ist mein Mann ☺☺☺"
Oktober
Ich sitze im Schatten auf der Terrasse, neben mir spielt Nene mit seinem Kreisel, vor mir die ewig ruhende Landschaft. Ich denke über die Götter der Etrusker und der Römer nach. Jahrelang schien mir alles klar. Nun weiss ich nichts mehr. Sind die Götter der Antike verblichen oder haben wir die Klarheit verloren, sie wahrzunehmen? Haben wir sie durch einen erdachten Gott ersetzt? Ich will es mir überlegen, doch statt logisch zu denken, schaue ich Nene zu, der im Pool rumplantscht. Wie konnten die scheinbar rationalen alten Griechen mit einer Götterwelt leben, in der sich alles widerspricht?
Nenes Existenz scheint so vage wie die der vor-olympischen Götter. Wenn ich mit ihm gedankenlos in den Tag lebe, sind wir beide glücklich. Will ich ihn ändern, weil er mich nervt? Welches Recht habe ich, ihn zu ändern? Bin ich nicht sein Gast? Wieder fragt Ursula in meinem Kopf, Gibt es einen Handlungsbedarf?
Soll ich am Kommentar arbeiten? die versprochenen Artikel schreiben? Muss Nene sich ändern, lernen, arbeiten, etwas leisten? Dürfen Ursula und ich zusehen, wie Peter nur Bauer wird? wenn nicht bloss Bauernfrau, wie sich Peter ausgedrückt hat? Warum muss der Mensch arbeiten, wenn er genug zum Leben hat? Schon bin ich wieder bei der do-nothing Philosophie von Fukuoka Masanobu.
Gibt es jenseits von so oder anders eine dritte Dimension des Vergessens? ¡Olvidar es lo mejor!
Von Alexander gefragt, was er sich wünsche, antwortete Diogenes, Geh mir aus der Sonne! Gibt es einen höheren Wert als glücklich zu sein? Wenn das Schicksal Peter diesen Freund geschenkt hat und ein sorgenloses Leben auf La Fortuna, was spricht dagegen, dankbar und glücklich hier zu leben?
Nene steht auf und holt sein Tablet. Ich mache ihm Platz, damit er mit mir auf dem Liegestuhl sitzen kann. Ich halte seinen Arm und sage, "Nene, schreib!"
"Wann kommt Peter zurück?"
"Im November"
"Ich sterbe bald"
"Warum stirbst Du bald?"
"Max ruft mich"
Darüber will ich nachdenken und denke doch wieder nur an Die Götter Griechenlands. Walter F. Otto fragt, wie es möglich sei, den Ursprung unserer Zivilisation bei den Griechen zu verorten und gleichzeitig ihre Religion als Fussnote zu behandeln. Waren die Götter der alten Griechen eigenständige Wesen einer höheren Ordnung, für die wir heute blind sind? Oder sind sie Fantasien wie Superman und Spiderman, die über die Jahrhunderte Teil der griechischen Kultur wurden? Sind die Götter der ersten Bücher des Alten Testaments wie die griechischen Götter? Brauchen wir Götter? Ich höre schon das Argument es muss etwas geben, wo doch die richtige Antwort ist, wir wissen es nicht oder gar wir können es nicht wissen.
Werden die Giganten, die in Peccioli aus dem vermutlich verseuchten Boden drängen, in ein paar hundert Jahren Forschern beweisen, dass hier im 21. Jahrhundert Erdgottheiten verehrt wurden?
Ich sage zu Nene, "Du weisst nicht, ob Du bald stirbst oder nicht" und sein iPad antwortet, "Max ruft mich."
Ich will nicht, dass Nene stirbt. Welche Gewissheit kann ich ihm entgegensetzen? Sind Nene Bereiche zugänglich, die mir verschlossen sind? Orakel, Schamanentum, Magie? Ich schäme mich, dass meine Gedanken zu mir zurückkehren, "Nene was denkst Du über mich?"
"Du bist ein guter Mensch aber traurig"
"Warum bin ich traurig?"
"Du vermisst Max"
Hat Nene recht oder glaubt er, dass der einzige Grund, warum ein Mensch traurig sein kann, ist, dass er Max vermisst? Ich suche in meinem Hirn vergeblich eine Antwort.
Ich spreche mit Rolf über die griechischen Götter. Er zitiert gleich auf Sanskrit, dass alles, was entstanden ist, wieder vergehen muss… auch die Götter, die dauern, bis sie vergessen, dass sie einmal schwinden werden. Heisst das, dass Homers Götter tot sind? Mehr noch interessiert mich und heute, gibt es keine Götter mehr? Rolf spricht, als wäre ihm alles klar, doch mir wird beim Zuhören nichts klar. Wie Wiedergeburt ist die Idee vergänglicher Götter verführerisch, aber das Autodidaktische an seinen Ausführungen ist mir zuwider. Ich wage nicht, Rolf zu fragen, wie ich auf Nenes Max ruft mich reagieren soll. Ich lasse Nene nicht aus den Augen.
Beim Spazieren am Abend ist Nene aufgekratzter als normal, versteckt seinen Kopf nicht unter der Kapuze, tanzt fröhlich vor mir her, vogelschreiend, wirbelnd. Ich frage ihn, "Nene, warum bist Du so fröhlich?"
"Weil ich bald zu Max gehe"
Diese Nacht schläft Nene erstmals nackt bei mir. Er legt seine Hand auf meinen Penis in meinen kurzen Pyjamahosen. Ich lege sie zurück und sage, "Du gehörst Peter."
Als ich am Morgen aufwache, schläft Nene immer noch nackt neben mir. Ich bin glücklich ihn neben mir zu spüren und gleichzeitig ängstigt mich die Veränderung. Will er sich mir zum Abschied schenken? Ich trinke seine Schönheit im Morgenlicht mit den Augen, während ich innerlich doppelt Abschied nehme von ihm: weil ich bald nach Zürich fahren werde und weil ich ihm glaube, dass er sterben wird. Ich bin froh, dass Peter in ein paar Tagen zurückkommt.
November
Aber was macht Nene? Als Peter zurückkommt, sagt ihm Nene als erstes, dass er bald sterben werde. Ich weiss nicht, was sie miteinander gesprochen haben, doch am nächsten Tag ist Peters Gesicht aschgrau vor Trauer. Ich verstehe. Ursula fragt mich, "haben sie ein Problem?"
"Nene vermisst Max."
"Warum… warum jetzt, wo Peter zurück ist?"
"Ich weiss es nicht."
Jetzt, wo Peter da ist, kann ich Nene nichts mehr fragen. Ich habe ihn lebendig und gesund Peter zurückgegeben. Mehr kann ich nicht tun. Ich möchte nach Zürich flüchten, um der Katastrophe aus dem Weg zu gehen. Kann ich Peter allein lassen? Ich zweifle nicht, dass Nene die Wahrheit spricht und uns verlassen wird. Wie? kommt es drauf an? Reisende soll man nicht aufhalten, tröste ich mich und gleite in die homerische Welt, wo dem Menschen ein Gott zur Seite steht und ihn davor warnt, sich dem Willen der Götter entgegenzustellen.
Peter fragt mich, "hat Dir Nene auch gesagt, er werde bald sterben?"
"Ja; ich habe Angst um ihn."
"Ich will nicht ohne ihn leben, aber er sagt, ich solle leben und ihn vergessen. Wie kann ich ihn vergessen?"
"Vergiss ihn nicht, aber lass ihn gehen. Reisende soll man nicht aufhalten. Ihr seid nur kurze Zeit zusammen, aber er hat Dir viel gegeben. Sei dankbar, dass Du ihn getroffen hast."
"Bitte geh nicht zurück nach Zürich! Ich brauche Euch."
Am nächsten Morgen, als hätte er abgewartet, dass Peter zurückkommt, liegt Nene ertrunken auf dem Grunde des Pools. Dr. Innocenti kommt, aber Nene ist schon seit Stunden tot. Innocenti schreibt, es sei ein Unglück. Konnte Nene in ein Meter siebzig tiefen Wasser ertrinken? Pillori kümmert sich um die Papiere. Giuseppe und Maria helfen uns, über die ersten Tage wegzukommen. Wir begraben Nene in aller Stille neben Max und lassen auf Peters Wunsch einen Platz für ihn frei.
Sind Peter und ich Nenes Mörder, auch wenn es niemand ausspricht? Wir haben Glück, dass es keine Untersuchung gibt. Ich verstehe, dass Peter hierbleiben will und ich bei Peter bleiben muss, solange er mich braucht. Ursula fährt nach Zürich zurück.
Zwei Tage später beim Frühstück sagt Peter, "was, wenn Nene jetzt ein Engel ist? Letzte Nacht war er im Zimmer, spürte ich, weil ich nicht schlafen konnte. Meinst Du, er liebt mich noch?" Peter weint.
Auch mir kommen die Tränen. Nur die Zeit heilt solche Schmerzen und zu wissen, dass wir vergessen werden, verschlimmert die frische Trauer. Ich sage nichts. La Fortuna gehört Peter; es ist sein Leben. Ich wünsche ihm, Nene treu zu bleiben und den Weg zu gehen, den er mit Nene begonnen hat.
Peter spricht mit mir über Nene. Ich spüre, dass ihn würgt, dass Nene ihm Max vorgezogen hat. Ich höre zu… was kann ich antworten? Ist Peter Achilles, Nene Patroklos? Weil ich innerlich von Nene schon Abschied nahm, als er nackt neben mir schlief, empfinde ich nicht dasselbe wie Peter, für den Nene der Sinn seines Lebens war. Nun sitzt Peter da mit dem Gut, wo er mit Nene leben wollte, und nichts macht mehr einen Sinn.
Die Trauer bringt uns zusammen. Noch nie scheint mir, habe ich Peter geliebt wie jetzt. Die Landschaft liegt tot vor uns. Wie kann Peter hier überleben, wo alles von Nene spricht? Ich flüchte mich in die Götter Griechenlands.
Peter fragt mich, "können wir irgendwo hingehen? nein, etwas anderes. Soll ich Deine Steuerrechnungen bezahlen. Jetzt haben wir genug Geld."
"Gern; wo möchtest Du hingehen?"
"Können wir nach Tokyo gehen? Du hast mal gesagt, ich könnte einen Sprachkurs machen…"
"Das ist eine gute Idee."
"Kommst Du mit mir und ich bleibe dann, bis ich Japanisch sprechen kann, fünf-sechs Monate..."
Ich bin erleichtert, dass Peter weiterleben will.
Peter bezahlt meine Steuerrechnungen. Ich bespreche die Japanreise mit Ursula und verlängere meine Abwesenheit von der Uni.
Dezember
Wir feiern traurige Weihnachten in Zürich. Hat der Lebensmut Peter verlassen? Er hält es nur eine Woche in Zürich aus, dann fahren wir zurück nach Peccioli. Peter will bei Nene sein. Wie Nene weint Peter sich bei den Pferden aus. Giuseppe und Maria, die was geschehen ist hinnehmen, wie es Homers Griechen hingenommen hätten, tun Peter gut.
Es regnet und wir spazieren mit Regenschirmen. Kalt ist es nicht. Peter sagt, "was soll ich ohne Nene?"
Wird Peter wieder zum hikikomori? "Gibt es etwas, was Nene wollte, was Du für ihn vollenden kannst?"
"Soll ich nach Zenica fahren und einen Jungen wie Nene suchen?"
"Wo ist Zenica?"
"In Bosnien."
"Ist er in Zenica geboren?"
"In der Nähe. Ich glaube, Nene hätte gern einen Waisenjungen von dort adoptiert."
"Willst Du ein Kind adoptieren?"
"Es ist noch zu früh; ich habe keine Kraft; ich möchte, dass Nene wieder da ist. In der RS habe ich vieles gedacht, was ich ihm sagen wollte, jetzt ist es zu spät. Meinst Du, ich hätte nicht in die RS gehen sollen?"
"Ich glaube mit den alten Griechen, dass gewisse Dinge vorbestimmt sind…"
"Glaubst Du, es gibt Götter?"
"Homer sagt es."
"Wo ist Nene jetzt?"
"Homer sagt, im Reich der Schatten."
"Nicht im Himmel?"
"Bei den Griechen wohnten die Götter im Himmel; die Toten in der Unterwelt."
"Dann ist Nene verloren…" Peter beginnt zu weinen, "ich will glauben, dass er jetzt ein Engel ist."
"Die Griechen trösteten sich nicht mit überirdischen Versprechungen, sondern mit heiterer Ergebung in das von den Göttern bestimmte Schicksal."
Ich sage es nicht, doch die Vorstellung einer Unterwelt, die alle Toten seit dem Anfang der Welt enthält, überzeugt mich nicht. Gleicht es nicht Dantes Jenseits, das nur von Italienern bevölkert ist? Wo sind die Afrikaner, Amerikaner und Chinesen in Dantes Vision?
"Hätte ich ihn schlagen sollen? Hat er mich verlassen, weil ich ihn nicht schlagen wollte? Er wollte, dass ich ihn wie Max behandle. Ich habe alles falsch gemacht."
"Du hast Dein Bestes getan. Ein Muslim würde sagen, es stehe im Himmel geschrieben." Hätten wir den Pool nicht bestellen sollen? Ich denke an das Lied von Bob Azzam C'est écrit dans le ciel.
Rolf spricht ruhig und lieb mit Peter. Rolf strahlt Sicherheit aus; er tröstet Peter besser, als ich es kann. Ich bin Rolf dankbar, dass er sich für Peter Zeit nimmt, ohne, was ich befürchtete, Peter zu nahe zu treten, oder zu versuchen, ihn über seine Beziehung mit Nene auszufragen.
Januar
Tokyo ist unendlich; mehr ein Land als eine Stadt. Unser Hotelzimmer ist klein; Peter und ich schlafen im gleichen Bett. Die Schule, die ich Peter vorgeschlagen habe, hat einen engen Empfang, kleine überheizte Schulzimmer, aber sie heissen Peter willkommen, organisieren ein Zweier-Zimmerchen mit Stockbetten in einer Studenten-Wohngemeinschaft für ihn und versprechen, sich um ihn zu kümmern. Dass er seinen Freund verloren hat... Bedeutet Liebe in Japan mehr als in der Schweiz?
Peter und ich fahren nach Yokohama und Nikko, aber bald fühle ich, dass Peter darauf wartet, dass ich abreise. Will er mit seinem Schmerz allein sein? Ich fliege zurück nach Zürich.
Endlich haben Ursula und ich Zeit füreinander. Die Nationalratswahlen haben Ursula frustriert und desillusioniert. Ihre jahrelange Arbeit für die Partei wurde nicht honoriert; Beziehungen waren wichtiger. "Am liebsten würde ich mit Dir nach Peccioli ziehen. Ein altes Haus renovieren und… meinst Du, dass Peter einmal mit einem neuen Partner zusammenleben wird?"
"Das steht in den Sternen… Ich bin froh, dass er in Tokyo nicht allein wohnt; der Kolumbier, der mit ihm das Zimmer teilt, schleppt ihn überall hin."
"Zum Glück! Ich wünsche Peter, dass er wieder einen Freund findet… oder eine Freundin? meinst Du das ist ausgeschlossen?"
"Zu mir hat Peter gesagt, er möchte später vielleicht ein Waisenkind aus Bosnien adoptieren."
"Das ist nicht einfach…"
"Aber es wäre gut für Peter."
"Da hast Du recht."
Februar
Wir hören nicht viel von Peter. Die Schule in Tokyo hält ihn auf Trab und organisiert an den Wochenenden Ausflüge für die Schüler. Ich verfolge auf Google Maps, wo sie herumreisen. Auf Whatsapp erwähnt Peter, dass er mit Javier, seinem Zimmerkameraden, gut auskomme, mit Javierito Kolumbien besuchen möchte; Javis Eltern hätten eine riesige Farm. Ursula und mir scheint alles gut, was Peter in die Zukunft zieht.
März
Ich verbringe Zeit in La Fortuna, um zu sehen, ob ich es hier allein aushalten würde. Am Mittag ist es warm genug, draussen zu sitzen. Ich habe Bücher mitgenommen, doch lese nicht viel. Warte ich darauf, dass Peter zurückkommt? Nichts interessiert mich. Die Landschaft hat ihre Magie verloren, der Wein schmeckt nach Rost und Blut. Das toskanische Essen verleidet mir. Ich gehe in Torre del Lago am Strand spazieren. Ich denke an Pindar…
Tagwesen! Was ist einer? Was ist keiner?
Von einem Schatten der Traum ist der Mensch.
Aber wenn Glanz von Gott gegeben kommt,
dann ist leuchtendes Licht bei den Männern und liebliche Zeit.
Ich bin einer unter sieben oder acht Milliarden Menschen. Wen kümmert, was ich denke, meine, glaube? Wenn ich etwas schreibe, wer wird es lesen? Und die es lesen, werden sie nicht auch sterben? In einem Mahlstrom der Vergänglichkeit blitzen wir Individuen auf und versinken gleich wieder. Wäre Nene nicht früher oder später auch gestorben? Jeden Tag sterben Hundertausende und doch lebt jeder, als müsste er nie sterben.
Das Ergebnis meiner Meditation ist, dass ich Peter frage, ob er einen Hund möchte.
"Unbedingt, Javi liebt Hunde."
"Welche Rasse?"
"Wie Milky von MilkyBokiTan."
"Was ist MilkyBokiTan?"
"Schau in YouTube!"
Milky ist ein Samojede. Wo finde ich in Italien einen Samojeden-Welpen? Wofür gibt es subito.it? Giuseppe holt den Hund. Samurai ist so süss, verspielt, nicht wasserdicht, hat mal Durchfall, mal ist er verstopft. Maria und ich sind den ganzen Tag mit dem Hund beschäftigt. Für Depressionen bleibt keine Zeit. Ursula beklagt sich am Telefon, dass ich jetzt mit Samurai verheiratet sei. Sie hat recht, mein letzter Gedanke vor dem Einschlafen ist, ob Samu schläft, der erste beim Aufwachen, wo ist Samu? Ich will es nicht denken, doch Samu… ist Samu Nenes Reinkarnation?
April
Samu wächst, wird frecher und vernünftiger. Ich versuche, ihn zu erziehen; oder erzieht er mich? Wie Nene will Samurai jeden Tag zur gleichen Zeit das gleiche unternehmen. Maria beklagt sich, wieviel Samu gekämmt und gebürstet werden müsse, und tut doch nichts lieber als sich mit dem fröhlichen jungen Hund abgeben.
Rolf liebt Samu auch. Wir spazieren zusammen mit dem Hund und sprechen über griechische und indische Weisheit. Versteht Rolf etwas, was ich nicht verstehe? Die griechische Weisheit bescheidet sich, dass die Menschen die schlauen, aber dummen kleinen Brüder der Götter sind und auf die grossen Fragen keine Antworten wissen. Rolf ist überzeugt, dass die Inder diese Fragen beantworteten, aber die Antworten weder simpel noch bequem sind.
Wenn Samu schläft und ich ruhig dasitze und auf meinen Atem horche, scheint mir, dass ich nicht-denkend der Wahrheit am nächsten bin.
Mai
Ich muss Peter jeden Tag ein Samu-Video schicken. Schon führen Peter und Javi mit Samu Whatsapp-Videogespräche. Ursula verbringt den Mai in La Fortuna mit mir… oder mit Samurai. Ich begnüge mich, nicht unglücklich zu sein. Verstehe ich etwas? Die Sonne scheint und die Landschaft gewinnt langsam ihre Magie zurück. Kehren die Götter wieder?
Juni
Ich bleibe in La Fortuna… wegen Samu? Peter will Ende Monat kommen mit Javi. Ich warte auf sie. Nichts zieht mich nach Zürich. Ursula kommt für eine Woche. In der Liebe zu Samu finden wir uns; er ist wie ein Kind, das spielen will, bis es plötzlich einschläft. Ich lese meinen Kommentar zur Anthologie durch, soweit er fertig ist, und korrigiere Fehler, die mir auffallen. Die Schwäche der Anthologie ist, dass sie keine Blütenlese ist, sondern eine Bibliothek, wo gute und schlechte Bücher nach dem Alphabet aufgereiht stehen; Dante an von Däniken lehnt. Wäre eine kommentierte Auswahl sinnvoller?
Ende Juni kommen Peter und Javier. Samu hat innert Minuten nur noch Nase für die zwei jungen Männer. Javier umarmt Ursula und mich und Maria und Giuseppe. Javier hilft gleich Giuseppe, an dem alten Geländewagen ein Rad zu wechseln. Peter erzählt aufgeregt von Japan und sagt, "natürlich bleibt Ihr hier; Javi will das auch; was wollt Ihr allein in Zürich und wir hier in Peccioli? Wir müssen zusammenbleiben, Nene will es so."
[1] Christiane Reitz, Homer hat gelebt – Homer hat nie gelebt.
[2] Anakreon, übersetzt von Eduard Mörike.
[3] Michael Page, Power of Chi.
[4] Michael Page, Power of Chi.