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Ich will dich kaufen

Copyright 2023 Martin Frank

In der Pasticceria Migliorini in Volterra sah ich einen Jungen, oder einen halben Jungen, denn ich erinnerte mich nur an seine weisse, mit einem groben Schriftzug bedruckte Trainingshose und riesige weisse Basketballschuhe. Trug er eine wattierte schwarze Jacke? Nein, jetzt erinnere ich mich, eine schwarze felpa, die Kapuze über den Kopf gezogen, so dass nur ein Büschel borstiger Haare über seine Stirne vorstand. Waren seine Haare schwarz oder grau oder grün oder gestreift, wie ein junges Wildschwein (in der Toskana leben mehr Wildschweine als Menschen). Hatte er ein Fuchs- oder ein Marder-, ein Maus- oder ein Katzengesicht? Er war kleiner und dünner als seine Schulkameraden, die mit ihm im Migliorini in der Pause was zu essen kauften (und dann ohne zu bezahlen abhauen wollten, doch den Migliorini Frauen entkamen die Lausbuben nicht). Ich wollte ihn mit dem Handy fotografieren, aber er drückte sich in einer Gruppe von fünf-sechs Jungen vor der Theke herum.

Was ging im Kopf dieses Jungen vor? Ich möchte neben ihm stehen, wenn er aus seinem fake Trussardi Portemonnaie den letzten Euro rauskramt, und zu ihm zu sagen:

"Lass es, ich bezahle für dich."

"Warum?"

"Weil du schön bist," in Volterra darf man das noch sagen.

"Sind Sie schwul?"

"Ja, stört es dich?"

"Warum sind alle Schwulen hinter mir her?"

"Weil du gut aussiehst."

"Ich bin zu klein und zu dünn."

"Mir gefällst du, wie du bist."

"Mir geht es auf die Nerven!"

"Hier ist meine Karte, wenn du mich mal besuchen willst."

"Warum sollte ich Sie besuchen? Ich bin nicht schwul."

Habe ich Visitenkarten mit meiner Adresse in Volterra? Würde er nach einigen Tagen vor meiner Tür stehen? Würde die Klingel, der in der Wirklichkeit ein übereifriger Elektriker den Faden abgeschnitten hat, funktionieren? oder hätte der Junge den Mut, mit dem Türklopfer aus dem vorletzten Jahrhundert zu klopfen?

Könnte ich zu ihm sagen, "ich will dich kaufen?"

Am nächsten Tag brachen – der carabiniere sagte Zigeuner – während ich im Meer schwamm, meinen orangen Fiat Panda auf und raubten alles… Telefon, ID, Führerschein, Kreditkarten, Geld, Portemonnaie, Kleider, Schuhe… mir blieben nur meine Badehose und die Schlüssel. Ärgerte es mich? Wenn es einem einmal im Leben geschieht, darf man sich beklagen? Geht es den Dieben besser als mir?

Nachher sass ich in einem Gebäude mit dicken Mauern im Büro der carabinieri in Volterra. War es die alte Wachtstube? Fenster sah ich keine. Eine Glocke läutete und ein zweiter carabiniere führte einen weinenden Jungen herein. An der weissen Hose mit dem Schriftzug erkannte ich ihn. Während ein carabiniere für mich, d.h. für meine Versicherung, einen anderthalbseitigen Rapport tippte, hörte ich zu, was dem Jungen geschehen war. Sie hatten ihn niedergeschlagen und ihm den Rucksack geklaut, iPhone, Portemonnaie, Geld, Schlüssel, Schulbücher… Wir kamen gleichzeitig aus dem Wachtposten raus.

"Tut mir leid, dass du ausgeraubt worden bist. Kann ich dir etwas helfen?"

"Sie haben mir mein iPhone geklaut." Er begann wieder zu weinen.

"Was hat es gekostet?"

"Achthundert Euro."

"Ich gebe dir das Geld morgen."

"Was muss ich dafür tun?"

"Nichts. Ich wohne Via delle Prigioni 12… wann hört morgen deine Schule auf?"

"Um zwölf."

"Komm nach der Schule zu mir; dann gebe ich dir das Geld."

"Sind Sie schwul?"

"Ja, warum?"

"Ich habe das auch schon gemacht, wenn Sie wollen…"

"Wohin gehst du jetzt?"

"Ich weiss es nicht. Ich habe kein Geld, keine Schlüssel und kein Telefon. Vielleicht kann ich zu einem Freund gehen, wenn er zuhause ist."

"Willst du zu mir kommen?"

"Geben Sie mir fünfzig Euro?"

"Ich bin auch ausgeraubt worden. Morgen kann ich dir Geld geben. Wie heisst du?"

"Enzo."

Wir gingen in mein Haus. Ich zeigte Enzo das Gästezimmer. Er wollte bei mir schlafen. Im Haus fand ich weitere Kreditkarten. Wir holten an einem Bancomat Geld; ich gab ihm hundert Euro; dann gingen wir essen.

"Hatte er ein Fuchs- oder ein Marder-, ein Maus- oder ein Katzengesicht?" Ein Frettchengesicht.

"Waren seine Haare schwarz oder grau oder grün, gestreift wie ein junges Wildschwein?" Borstig dunkelgrau, als hätte Enzo unbeholfen versucht, sie von grün zurück auf schwarz zu färben. 

Im Restaurant ass Enzo lasagne und erzählte, ohne dass ich ihn auszufragen brauchte: Er wohnt bei einer Tante in Pomarance, die ihn nicht mag. Die Mutter ist im Spital mit Krebs. Die Eltern sind geschieden. Sein Vater hat eine Freundin und keine Arbeit. Am Wochenende geht Enzo nach Florenz und macht es in einer schwulen Disco, oder er findet einen auf tinder.

"Was gefällt Ihnen?"

"Dafür bin ich zu alt. Ich könnte dein Grossvater sein. Ich habe dich im Migliorini gesehen."

"Im Migliorini, wann?"

"Letzte Woche; deine Freunde wollten nicht bezahlen.

Stimmt! [eine grafische Beschreibung seiner Freunde]

In meinem Haus duschte Enzo. Ich gab ihm Trainerhosen und ein T-Shirt. Im Bett heulte er los: Was er mir schon im Restaurant erzählt hatte, nun aber mit einem roten Faden von Streit um Geld, das seine Tante von ihm verlangt, das seiner Mutter fehlt, das sein Vater ihm nicht gibt; Lehrer, Sozialarbeiter. Ein Junge, der sich einmal für Schulbücher verkauft, fünfmal für Nike Basketballschuhe, zehnmal für ein iPhone… und träumt, dass ihn jemand liebe, jemand für ihn sorge. Fehlte ihm nur Ruhe und Liebe? Im Schlaf schmiegte er sich an mich. Was wollte ich mehr?

Am Morgen ging Enzo zur Schule. Ich holte auf der Bank Geld für sein iPhone.

Fünf nach zwölf stand Enzo vor meinem Haus. Dass meine Klingel nicht funktioniert, wusste er schon. Ich gab ihm das Geld für das iPhone.

"Willst du, dass ich heute abend bei dir schlafe?"

"Du kannst immer hier schlafen, wenn du willst. Wann kommst du?"

"Kann ich gegen fünf kommen? Ich hole vorher das Telefon und eine neue SIM-Karte."

"Dann können wir zusammen essen gehen," ich kann nicht kochen.

Enzo kam irgendwann nach fünf, legte sich auf das Bett im Gästezimmer und richtete sein neues iPhone ein. Ich verstand, dass er allein sein wollte, auch wenn er die Türe offenliess.

Fragte ich mich beim Essen, ob ich Enzo lieben könnte?Er war hübsch und mein Typ: klein, dünn, welpig. Störte mich, dass er kein unbeschriebenes Blatt war, oder fand ich das überraschend praktisch? Er schien mir berechenbar und nervte mich nicht. Dass er mit anderen Worten bettelte, ihm eine Smile Clinic in Florenz zu bezahlen, weil ihm ein Schaufelzahn fehlte, überraschte mich nicht, auch wenn ich gern gesagt hätte, "aber wir haben doch nichts gemacht," oder "zahlst du es mir mit deinem Körper zurück?"

Nachts im Bett war Enzo eine Mischung von schlauem Schakal und naiv-verlorenem Kind. Dass ich dafür, was alle wollten, zu alt war, verwirrte ihn. In seinem schmalen Borstenkopf sagte mal die Dankbarkeit, "möchtest du, dass ich manchmal etwas koche für dich, damit du nicht immer im Restaurant essen musst?", mal die Schlauheit, "in meiner Klasse haben alle einen Laptop ausser mir…"

Entgleitet mir mit zunehmendem Alter, was an Menschen gut und schlecht ist? Sind nicht alle Menschen mixed bags? Wenn Enzo ein iPhone und die Clinica del Sorriso reichten, um mir Gesellschaft zu leisten, worüber sollte ich mir Gedanken machen?

Am Morgen fragte ich Enzo, "willst du hier wohnen?"

"Ich habe kein Geld. Ich kann keine Miete bezahlen. Kann ich etwas arbeiten für Sie?"

"Kannst du einkaufen und Frühstück machen?"

"Mit Freuden!"

Enzo kaufte willig ein; am liebsten, was man nicht zu kauen braucht. Frühstück und früher aufstehen, vergiss es! Er schlief noch mit verklebten Augen, wenn ich hellwach mich schon sorgte, dass er zu spät in die Schule komme. Zum Glück war seine Schule keine hundert Meter entfernt. Gern hätte er in den Kleidern geschlafen, in denen er zur Schule ging, um nur in seine nicht gebundenen Basketballschuhe zu schlüpfen, die Treppe hinunterzupoltern und als letzter ins Schulzimmer zu flitzen. Geputzte Zähne und klare Köpfe erwarteten seine Lehrerinnen um acht Uhr morgens offensichtlich nicht. Dass er mir aus der Schule WhatsApp Nachrichten mit vielen Herzchen schickte, hielt ich für direct mail. Vermisste er mich um acht Uhr fünfundvierzig?

Nichts liess vermuten, dass Enzo seine Schularbeiten machen würde, doch die Spielregeln seiner Schule schienen ihm so wenig verhandelbar wie Fussballregeln. Mit schmierigem Kugelschreiber und kringeliger Schrift schrieb er am Esstisch, was von ihm verlangt wurde. Auch wenn er aus Gewohnheit alle paar Minuten tinder kontrollierte, las er (mit einem italienischen Rapper in seinen iPods, bzw. seinen Ohren) Leopardi…

Qui sull'arida schiena
del formidabil monte
sterminator Vesevo,
la qual null'altro allegra arbor né fiore,
tuoi cespi solitari intorno spargi,
odorata ginestra
contenta dei deserti...[1]

Sah er, dass vor seinen Augen ein Bild des Vesuvausbruches von 1631 hing? In allem sowohl-als-auch, war Enzo von Bildung unberührt und von Italianità getränkt. Frech und gehorsam, widerborstig und lenkbar, fügte er sich in den Raum, den ich ihm liess. Fasste ich nach, schnappte er aggressiv zurück, "ich habe es dir schon mal gesagt, aber du hörst mir nie zu!", dass mir das Blut in den Kopf schoss; sagte ich, "kannst du noch das Geschirr abwaschen, bitte!" machte er es, ohne zu maulen. Mal wurde er zornig, mal ich, doch bis ich ihn (nach einer halben Stunde) fragte, "bist du noch wütend?" oder sagte, "das hat mich wütend gemacht", wusste er wieder, dass er von mir abhing, und ich, dass ich nicht mehr ohne ihn auskommen wollte.

Nach dem ersten Besuch in der Clinica del Sorriso dankte er mir. Dass er dabei weinte, war es Selbstmitleid? Noch niemand, sagte er, hätte so viel für ihn getan. Direct mail?

Zum siebzehnten Geburtstag kaufte ich ihm einen refurbished Lenovo Yoga Laptop. Ich fühlte mich übervernünftig, doch er folgte widerstandslos meiner Überlegung, es sei besser, Dinge zu haben, die man leicht ersetzen kann, wenn sie nicht mehr funktionieren oder gestohlen werden. Ich rechnete ihm hoch an, dass er mit meiner vernünftigen Grosszügigkeit zufrieden war.

"Brauchst du Taschengeld?"

"Ich brauche fast nichts; gibst du mir zwanzig Euros?"

"Und neue Schuhe?"

"Sehen meine Schuhe so schlimm aus?"

"Ich fahre morgen nach Florenz, willst du mitkommen?"

Schuhe kaufen mit Enzo war harmloser als erwartet. Er wählte halb scheu, halb selbstbewusst weder die teuersten noch die billigsten und fragte mehrmals nach, ob sie okay seien für mich; seine ersten Jordans. Wir assen in einem vegetarischen Restaurant. Er wollte Teigwaren mit Tomatensauce. Abwechslung, Neugierde, kulinarische Abenteuerlust… nichts. Mal pizza, mal spaghetti, am liebsten lasagne, kein Gemüse, kein SalatWir tranken in der Buchhandlung Feltrinelli, ich Kaffee, er Red Bull. Bücher… nicht mal Mangas interessierten ihn… wo es doch TikTok gibt! 

Fast hätte ich vergessen, dass Enzo auf dem Weg zum Bahnhof Santa Maria Novella der Faszination eines Marihuanaladens erlag. Obwohl ich wusste, dass es zum Fenster hinausgeworfenes Geld war, brachte ich es nicht übers Herz, ihm die Freude zu verderben. Sein Gras roch wie Heu. Hätte ich vor fünfzig Jahren einem Brocken Roter Libanon widerstehen können, auch wenn der Ambitionskiller Haschisch das letzte ist, was ein Junge ohne Ambitionen braucht? 

Auf dem Hin- und Rückweg spielte Enzo auf seinem iPhone ein hirnloses game. Wenn er nicht spielte, schwatzte er auf mich ein, ihm eine Tätowierung zu bezahlen. Ich sorgte mich, dass er den Körper, den ich besitzen wollte, entstellen würde. Versuchte ich zu verstehen, was ihm die Tätowierung bedeutete? Selbstverletzung? Selbstbestrafung? Wofür?

Im Bett spielte Enzo, während ich einzuschlafen versuchte, weiter Free Fire oder schaute TikTok Videos. Als ich ihn mürrisch aufforderte, endlich zu schlafen, sagte er, "ich kann noch nicht schlafen…"

"Warum kannst du nicht schlafen? Es ist fast Mitternacht."

Enzo maulte, ich brummte, bis er sagte, "du möchtest… Wie es in mir drinnen aussieht, siehst du nicht!"

"Wie sieht es in dir drinnen aus?"

"Ich war noch nie glücklicher als hier bei dir, aber für dich bin ich nur einer unter vielen, der dir eine Zeitlang gefällt. Wenn ich dir verleide, wirfst du mich raus." Enzo begann zu weinen, "danke für die Schuhe!"

"Sie passen dir gut."

"Was willst du von mir?"

"Ich will dich kaufen."

"Ich verstehe nicht."

"Ich möchte dich besitzen."

"Damit ich nicht weglaufe?"

"Vielleicht. Ich kann es nicht erklären. Ich möchte, dass du mir gehören willst."

"Ich gehöre Dir, Du hast mich gekauft; zufrieden?

"Bist Du glücklich?"

"Ich bin glücklich; zufrieden?"

Ich wünschte Enzo, dass er glücklich sei, obwohl ich wusste, dass kein Mensch einen anderen zum Glücklichsein zwingen kann, weil Glück und Liebe verdient sein wollen.

Ich nahm Enzo in die Arme und tröstete ihn wie ein Kind. Kann ich ihm erklären, dass er in zwei-drei Jahren ein anderer sein wird und ich auch? Dass Zeit Menschen zusammenkittet oder auseinanderreisst ungeachtet von Versprechen, Schwüren und Verträgen?

Am Sonntag verirrten wir uns im Wald auf dem Heimweg von einem Spaziergang. Mehr als eine Stunde kletterten wir Holzwege hinauf und Wildschweinwechsel hinunter. Google Maps zeigte nur, dass wir am falschen Ort waren. Die Irrwege ermüdeten und nervten mich. Enzo blieb völlig cool und half mir über die schwierigsten Passagen weg. Dreimal mussten wir ein Flüsschen auf wackeligen Steinen überqueren. Dass er sich nicht beklagte, beeindruckte mich.

Auf der Rückfahrt fragte Enzo mich noch einmal, "was willst du wirklich von mir?"

"Dass du mir gehören willst. Aber ich habe Angst, dass du dich zwingst, etwas zu tun, was du nicht willst."

"Ich versuche es; zufrieden?"

Auf WhatsApp schrieb Enzo mir, "ich liebe dich." Ich antwortete, "ich vermisse dich." Wie ein junger Hund schien er abwechslungsweise Freiheit und Schutz zu suchen, mal an der Leine in alle Richtungen zu zerren, mal an mir hochzuspringen und um etwas zu betteln. Bin ich für ihn verantwortlich oder nur für seine Gesundheit, seine Zähne und dass er pünktlich zur Schule geht? Scheint mir seine Zukunft belanglos, weil mir selbst wenig Zukunft bleibt?

Camera

Er will mich kaufen

Hätte ich den Carabinieri gesagt, wer mir den Rucksack und das iPhone geklaut hat, würden sie mir alle Knochen brechen.

Was will der Alte von mir? Er sprach mich in dem kleinen gepflasterten Durchgang vor dem Posten der Carabinieri an. Es war gegen Abend, fünf oder sechs Uhr. Er trug weite kurze Hosen und ein Poloshirt… Ist ihm auch was gestohlen worden? Hat er zugehört, was mir passiert ist? Ist er schwul? kann ich was kombinieren? Ich hatte nur ein paar Münzen in der Tasche, alles andere war mir geklaut worden. Er wollte mir einreden, dass er mir ein neues iPhone kaufen würde, und ich sei ihm schon vor einer Woche im Migliorini aufgefallen. Blabla! Lässt er fünfzig Euro oder zwanzig Euro springen? Er sagte er sei Rolf. Ich ging mit in sein Haus in der Gefängnisgasse. Das Haus war klein, aber modern renoviert mit weissen Wänden und neuen roten Tonböden, LED-Lampen und alten Bildern und Möbeln. Alles sah teuer aus. Ist er bescheuert? Ich bin kleiner als er, aber flink im Abhauen; er war alt und sah schon etwas wackelig aus. Ich fürchtete mich nicht vor ihm.

Ich war superhungrig und Rolf lud mich zum Essen ein. Er holte Geld an einem Bankomaten und gab mir hundert Euro, damit ich bei ihm schlief, aber nachher machten wir nichts. Wir assen in dem Restaurant um die Ecke von der Gefängnisgasse. Die Wirtin und die Kellner kannten ihn. Einer der Kellner ist hübsch und lächelte, als wüsste er, was lief. Ich ass Lasagne und hatte nachher immer noch Hunger, aber wagte nicht den Mund aufzumachen. Rolf isst kein Fleisch und trinkt keinen Alkohol; das muss er selbst wissen. Beim Essen erzählte ich ihm, dass sie mir den Rucksack geklaut hatten und warum. Und den Schlüssel zum alten Haus meiner Tante in Pomarance, wo meine Tante längst nicht mehr wohnt. Niemand dort, der mir aufmachen kann. Meine Tante wird mir keinen neuen Schlüssel geben. Rolf fand, ich hätte den Carabinieri die Wahrheit sagen sollen und ich müsse zum Zahnarzt gehen, weil mir ein Schaufelzahn fehlt. Bezahlt er mir den Zahnarzt? Er sagte, er liebe short and stupid boys, das verletzte mich, auch wenn er es vielleicht nicht ernst meinte. 

Rolf trank caffè; ich redete zuviel. Der hübsche Kellner brachte mir ein tiramisu. Ich heulte ein bisschen, weil ich hoffte, dass Rolf mir helfen würde. Es ging mir schon schlecht, bevor sie mir alles klauten. Seit Matteo mit mir Schluss gemacht hat, habe ich keinen Freund mehr, und weil alle chatten, dass ich auf den Strich gehe, finde ich niemand, das ist das Schlimmste.

In seinem Haus bot Rolf mir an, in einem kleinen Zimmer mit einem Eisenbett zu schlafen, aber ich wollte mit ihm schlafen, weil ich Geld brauchte. Im Bett erzählte ich Rolf, wie es mir ging: meine Eltern, für die ich nicht existiere, und meine Tante, die mich hasst. Meine Mutter, die glaubt, ich schulde ihr etwas, weil sie übersieht, dass ich schwul bin; mein Vater, der mir SMS schickt, er hasse Schwarze und Schwule. Von Matteo sagte ich nichts.

In der Nacht legte Rolf einen Arm über mich, aber mehr nicht. Er sagte, er sei zu alt für Sex. Mir war es egal; wenn er mir Geld gibt, nur damit ich in seinem Bett schlafe, umso besser. Wo hätte ich sonst schlafen können ohne Schlüssel? Rolfs Bett war gross und bequem. Ich schlief gut und ging am Morgen in die Schule mit einem Block und einem Kugelschreiber, die mir Rolf gab. Sie lachten sich krumm, weil ich keine Bücher und keine Hefte dabeihatte. Ich könnte sie umbringen, aber ich weiss, dass niemand auf meiner Seite ist. Ich würde in einem Gefängnis verrotten, und sie würden sich totlachen.

Am Mittag gab mir Rolf Geld für ein neues iPhone.

"Warum gibst Du mir soviel Geld?"

"Ich will Dich kaufen!"

Das iPhone war mir wichtiger, als zu verstehen, warum Rolf mir Geld gab. Das iPhone musste ich in Florenz holen. Mit viel Geld unterwegs zu sein, machte mich nervös. Was wenn sie mich erwischen? Was wenn sie mich im Apple Store sehen? Vom Apple Store zum Bahnhof ist es weniger als ein Kilometer, aber ich fürchtete mich auf der Strasse, und noch mehr im Bahnhof und im Zug. Ich rollte den Plastiksack zusammen, damit man nicht sah, dass ich vom Apple Store kam.

Im Bus überlegte ich mir, was Rolf von mir will: Ist er reich, oder verrückt, oder verschossen in mich? Was heisst, "ich will Dich kaufen?" Ist Rolf einsam? Ist es ihm so viel wert, dass ich nicht abhaue? Wäre ihm jeder andere kleine, schlanke Junge meines Alters auch recht, wenn er nicht wegläuft? 

In Volterra holte ich eine neue SIM-Karte und richtete dann in Rolfs Haus das neue iPhone ein. Ich lud Free Fire herunter und begann zu spielen. Bald gingen wir essen. Rolf malte mir aus, was er alles für mich tun wolle. Ich sah voraus, dass er nach ein paar Tagen die Nase voll haben würde von mir, und gab mir Mühe, ihm nicht auf die Nerven zu gehen.

Abends checkte ich tinder: Darf ich mal in den Park? Oder wirft Rolf mich gleich raus? Ich onanierte in der Dusche. Die Langeweile in seinem Haus ist tödlich. Kein Wunder, dass er einsam ist. Welcher Junge hält das aus? Wieviele sind ihm schon davongelaufen?

Nachts im Bett tat ich, als würde ich Rolf gern haben. Wir machten nichts. Er wollte nur, dass ich bei ihm schlief. 

Am Samstag war ich erstmals den ganzen Tag mit Rolf zusammen. Wir gingen spazieren wie alte Leute; alles strengt ihn an. Ohne Rolf könnte ich jetzt in Florenz in der Disco Typen aufreissen. Die Gefängnisgasse ist schlimmer als ein Jugendknast! Ich hörte mit den Kopfhörern Musik und spielte mein game. Beim Essen konnte er immer noch nur davon reden, was er alles für mich tun wolle. Mich interessierte, ob ich nachts spazierengehen darf, aber ich wagte nicht zu fragen. Vom Zwang brav zu sein, wurde mir ganz blöd im Kopf. Die lasagne waren gut.

Bis es Sonntagabend ist, bin ich so nervös, dass ich spazierengehen muss, um nicht alles hinzuschmeissen. Auf der Treppe, wo die Jungen sitzen, träume ich, dass Rolf mein Vater wäre und hasse mich gleich dafür. Bin ich so blöde, jemand zu lieben, für den ich nur ein Vogel bin, der nicht wegfliegen darf?

Ich wollte mich mit jemandem von tinder im Park treffen, aber er kam nicht. So ein Schwachkopf!

Zuhause fragte Rolf mich, als hätte er erraten, dass ich unglücklich bin, "brauchst du Taschengeld?"

"Ich brauche fast nichts; gibst du mir zwanzig Euros?"

"Und neue Schuhe?"

"Sehen meine Schuhe so schlimm aus?"

"Ich fahre morgen nach Florenz, willst du mitkommen?"

Wir fuhren nach Florenz. Rolf hat einen neuen Panda mit Klimaanlage. Er fährt langsam, aber ich war froh, dass wir nicht mit dem Bus und dem Zug fuhren.

In dem Laden, wo Rolf mir die Jordans kaufte, bediente uns ein junger Verkäufer mit dunkelrot-geflammten schwarzen Haaren, eine Seite lang, eine rasiert, mit einem Death Note T-Shirt und zerrissenen engen schwarzen Jeans, Piercings und einem zerschlagenen iPhone 7. Ich sah, dass er Rolf gefiel. Der Junge war gleich gross wie ich und dünn; ich hätte ihn gern abgeschleppt. Er verstand, wie Rolf und ich funktionieren, und behandelte mich, als wären wir Kollegen, als kenne er mich vom Bahnhof. Wenn Rolf mit ihm sprach, wurde ich eifersüchtig; als der Junge mir die Schuhe band, hatte ich Mühe, ihn nicht zu berühren und um seine Nummer zu fragen. Ich spürte, dass er mich mochte. Würde Rolf mir einen Freund erlauben? Ich hatte Glück, dass Rolf mich nicht gleich sitzenliess. 

Nachdem Rolf mir die Jordans gekauft hatte, brachte er mich in die Clinica del Sorriso zum Zahnarzt. Ich hatte nicht daran geglaubt und fühlte das erste Mal was wie Liebe für Rolf oder Mitleid, weil er so alt und einsam ist, dass er mir den Zahnarzt bezahlen muss, damit ich ihm Gesellschaft leiste.

Fast vergessen: Rolf kaufte mir einen sauteuren Oakley Rucksack und 10 Gramm von dem schlechten Gras, was sie legal verkaufen. Der Marihuana-Laden sah verführerisch aus, aber was die Schwarzen verkaufen, ist besser.

Wir assen Sandwiches im Feltrinelli. Rolf fragte mich, "hat Dir der Junge vom footlocker gefallen?"

"Ich weiss, dass ich keinen Freund haben darf."

"Habe ich das gesagt?"

Ich wagte nicht, weiter von dem Jungen zu sprechen. Was wenn er Rolf besser gefällt als ich?

Auf der Heimfahrt fand ich den Jungen auf tinder in Florenz. Auf tinder hiess er Mauro. Ich begann mit ihm zu chatten.

"Können wir uns treffen?"

"Wo?"

Spielte ich mit dem Feuer? Gefiel ich dem Jungen? Ich stellte mir vor, dass wir uns verstehen würden, weil auch ihm Death Note gefällt. Ich möchte mich auch tätowieren lassen, wenn Rolf es erlaubt.

Als ich zwei Wochen später allein in die Clinica del Sorriso ging, traf ich mich mit Mauro im Starbucks am Bahnhof. Es funkte gleich. Sein wirklicher Name ist Costa. Er sagte, er hätte mich schon in einem Club gesehen. Er hat auch keinen festen Freund. Wirft Rolf mich raus, wenn er etwas merkt? Costa meinte, ich hätte das grosse Los gezogen mit Rolf; er möchte auch einen reichen Freund, der ihm alles bezahlt. Auf der Strasse vor dem Starbucks küssten wir uns. Seine Lippen schmeckten nach einem Cherry Lippenstift.

Was Costa nicht versteht: Ich darf Rolf nicht auf die Nerven gehen, aber er… er darf mich nerven, bis ich ihn umbringen könnte. Es ist einfacher, ein paarmal eine halbe Stunde geil zu grinsen, als vierundzwanzig Stunden am Tag brav zu sein und ständig spüren zu müssen, dass ich für Rolf nur ein Haustier bin. Aus jedem Satz, den er sagt, höre ich, dass ich dumm bin… glaubt er, ich höre gern, dass ich short and stupid bin?

Kaum kam ich mit dem neuen Rucksack in die Schule, wussten sie, wo ich jetzt wohne. Ich sagte ihnen, dass wenn sie mir das neue iPhone klauten, mein Freund sie anzeigen würde mit einem Anwalt und dem ganzen Theater; er hätte Geld. Da hielten sie den Mund und hackten statt auf mir auf Ahmed rum, dem Schwarzen in unserer Klasse.

Rolf hat ein riesiges Bild von einem Vesuvausbruch. Es ist so alt, nur noch grau in grau. Haben alte Leute gern alte Sachen? Ich räume auf und wasche die Gläser und Kaffeetassen ab, das macht mir nichts aus. Ich möchte für ihn kochen, aber kann er essen, was ich koche?

Ich wollte was tun für Rolf, doch ihm fiel nur Frühstück ein… Frühstück! wo mir die Zeit nicht reicht, zu pissen, bevor ich in die Schule düsen muss. Zum Glück ist es nicht weit. Meine Schulaufgaben sind ihm wichtig, als sollte ich später in eine Universität gehen. Was hat er mit mir vor? Will er mich, obwohl er mich für dumm hält, in die Universität schicken und mir ein Studium bezahlen, wenn er dann noch lebt? Was soll ich studieren? Interessiert mich was? Kann ich irgendwas? Solange ich im Alter bin, das ihm gefällt, verspricht er mir das Blaue von Himmel und kauft mir Geschenke, doch wenn ich ihm verleidet bin, wirft er mich raus, ganz gleich, was er mir jetzt verspricht. Wo sind seine Freunde von früher?

Abends will Rolf früh schlafen gehen, ich spät. Meine games nerven Rolf; er meckert, weil ich keine Bücher lese, weil mir klassische Musik nichts sagt. Ich möchte zusammenpacken und abhauen, doch wohin? Auf mich wartet niemand nirgendwo. Ich kann nur spazierengehen, bis ich mich beruhige. Darf ich mich mit Costa treffen? Ist Rolf nie jung gewesen?

Im Bett spiele ich, während Rolf einzuschlafen versucht, Free Fire oder schaue TikTok. Eines Nachts forderte er mich mürrisch auf, endlich zu schlafen.

"Ich kann noch nicht schlafen…"

"Warum kannst du nicht schlafen? Es ist fast Mitternacht."

Ich maulte, er brummte, bis ich sagte, "du möchtest… Wie es in mir drinnen aussieht, siehst du nicht!"

"Wie sieht es in dir drinnen aus?"

"Ich war noch nie glücklicher als hier bei dir, aber für dich bin ich nur einer unter vielen, der dir eine Zeitlang gefällt. Wenn ich dir verleide, wirfst du mich raus." Ich begann zu weinen, "danke für den Zahnarzt!"

"Du siehst besser aus."

"Was willst du von mir?"

"Dass du mir gehören willst."

"Ich verstehe nicht."

"Ich kann es nicht erklären. Dass du nicht weglaufen willst; dass du hier glücklich bist."

"Bist du glücklich? Kümmert dich, ob ich glücklich bin?"

Er wiederholte, "ich möchte, dass du hier glücklich bist," obwohl ich für ihn nur ein Haustier bin, damit er weniger einsam ist. Ich weinte, weil ich mir leid tat, dass in meinem Leben nie was richtig läuft. Wenn Rolf mich gern hätte, wie glücklich könnten wir sein! Er nahm mich in die Arme, als wäre ich ein Kind. Wenn er nur verstehen würde, dass ich auch ein Mensch bin!

Am besten geht es mir, wenn es Rolf schlecht geht. Dann kann ich mich um ihn kümmern, ich mache das, ich weiss nicht warum, gern. Ich kaufe ein, was er wünscht, und hole Essen um die Ecke. Aber was, wenn Rolf ins Spital kommt, was geschieht dann mit mir?

Bin ich so blöde, jemand zu lieben, für den ich nur ein Vogel bin, der nicht wegfliegen darf?

 


 

[1] (La Ginestra, Canti, 34, Giacomo Leopardi)
Hier auf dem dürren Grat
Des schreckenvollen Berges
Vesuvio, des Verwüsters,
Wo sonst nicht Baum noch Blume fröhlich grünt,
Verbreitest du dein einsam wuchernd Laub,
Duftvolle Ginsterblume,
Genügsam in der Oede…