Syed[1] 'abid Husain
Student der Medizin
Jawaharlal Nehru Medical College in Aligarh[2]
Unsere Familie kam im Gefolge des Vazirs Shuja-ud-Daula[3] nach Faizabad[4], wo wir mit verschiedenen ehrenhaften Ämtern am Hof betraut waren. Nach der Absetzung des letzten Königs von Avadh[5], Ihrer Königlichen Majestät Wajid ‘Ali Shahs[6], wurde unser Vermögen aufgrund des von den Engländern beschlossenen neuen Erbrechts aufgeteilt, so dass meinem Grossvater nicht der Reichtum blieben, seinen Sohn, das heisst meinen Vater, angemessen auszubilden. Unsere Güter nährten uns nur kümmerlich, und nach dem Tode meiner Mutter ergab sich mein Vater Spiel und Alkohol.
Wäre meinem Vater ermöglicht worden, sich standesgemäss zu bilden, hätte er im Dienste der Regierung oder beim Heer Ehre und Vermögen erworben, doch so, von der Ehrlichkeit seines Verwalters abhängig und ohne irgendwelche nützlichen Kenntnisse, gelang ihm nicht, zum Unterhalt der Familie beizutragen.
In meinem fünften Altersjahr kurz nach der verfrühten Geburt meines jüngeren Bruders starb meine Mutter; danach überliess mein Vater unsere Pflege der Frau unseres Verwalters. Da ich zwei Jahre älter bin als dessen erstgeborener, einziger Sohn, kümmerte sich der Verwalter, den wir Kinder 'Onkel' nannten, um meine Erziehung; ich wurde, so beschämend dies ist, zu meinem Vorteil wie sein eigener Sohn gehalten und auch nach der Geburt seines Sohnes, meines 'Cousins,' ihm gleich behandelt. Mein jüngerer Bruder hingegen, dem von Geburt an das Augenlicht fehlte, verblieb ganz in der Obhut der Frauen. Ihn in eine Blindenanstalt zu geben, verbot die Ehre; ihm privat eine geeignete Erziehung angedeihen zu lassen, fehlte das Geld. Mein Bruder war musikalisch begabt, und seine Stimme, wenn er Qawalis[7] sang, entzückte das ganze Quartier.
Der Musikerberuf ist unserer Religion und unserem Stande nicht angemessen ist, insbesondere die Männer enthalten sich Musik und Gesang. Es war ausgeschlossen, meines jüngeren Bruders Begabung zu fördern. Da mein jüngerer Bruder keine andere Beschäftigung hatte, verbrachte er viel Zeit in einem Schallplatten- und Musikkassettenladen in unserer Gasse, wo er nach und nach hunderte von Filmsongs auswendig singen lernte, wobei er Stimme und Tonfall des jeweiligen Sängers vollkommen nachzuahmen vermochte.
Die Nachmittage verbrachte mein Bruder am Liebstem in dem nahen Kino 'Vier Türme', dessen Besitzer sich seiner erbarmte und ihn ohne Bezahlung einliess, "weil er ja nichts sah,"
Neben Musik, und meinem jüngeren Bruder gefiel alle Musik, von Hochzeitstrommlern und -bläsern bis zu den grossen Meistern unserer klassischen Musik, schien mein Bruder nur an zwei Dingen interessiert zu sein: Ein Kassettenradio mit möglichst vielen Kassetten und ein Decken- oder Standventilator, der ihm Nachts Kühle spenden würde, das waren seine beiden, bei Vaters Geldverlegenheit nicht erfüllbaren, grossen Wünsche, und wenn er mit mir sprach, so meistens, um mir zu erklären, wie er mit meiner Hilfe aus Holz und Drähten einen Ventilator zu basteln hoffte. Im Musikladen vor den scheppernden Lautsprechern und unter dem wirbelnden Deckenventilator vergass er sich. Laut sang er die Filmschlager mit, der Zuhörer nicht bewusst, und wenn ihm dann jemand eine frisch gebackene Gemüsekrokette oder ein Glas süssen Tee schenkte, war er glücklich. Obwohl seinen Augen von Geburt das Licht fehlte, war mein jüngerer Bruder von grosser Schönheit. Im Quartier wurde er deswegen von allen nur 'Hari' gerufen, nach dem für seinen übermenschlichen Liebreiz berühmten Gott Krishna. Ja, ich selbst pflegte ihn so zu rufen, zum Ärger meines Vaters, dem jede Vermischung unserer Religion mit der Vielgötterei der Hindus zuwider war. Mich ärgerte, dass ruchbar wurde, dass ein paar Jünglinge, darunter Swamidas, der Inhaber des Musikladens, Hari nachstellten. Ich wusste, dass auch der Cousin Hari in meiner Abwesenheit bedrängte. Unserer hoffnungslosen materiellen Abhängigkeit von seinem Vater, unserem Verwalter, wegen, brauchte der Cousin weder meinen Vater noch mich zu fürchten.
Unser Vater trank sich zu Tode und ahnte seinen frühen Tod voraus. Das Fehlen einer standesgemässen Beschäftigung, unsere Armut, der Tod unserer Mutter und dass er nicht imstande war, für Hari zu sorgen, bedrückten ihn. Unser Vater konnte auch nicht hoffen, dass der Verwalter sich um Hari kümmern würde. In einer besseren Zeit wäre vielleicht möglich gewesen, Hari zum Geistlichen ausbilden zu lassen, aber dafür fehlten meinem Vater Geld und Kraft. Früher oder später würde Hari nur noch das Leben in einem Almosenhaus bleiben, zur dauernden Schande unserer Familie. Mir schien Hari nichts als eine Last und Schande für unser Haus.
Im Jahre 1975, kurz nach Haris dreizehntem Geburtstag, selbst war ich damals siebzehn Jahre alt, schlug ein meinem seligen Grossvater befreundetet gewesener einflussreicher Anwalt Vater vor, meinen jüngeren Bruder von einem vermögenden kinderlosen Weissen adoptieren zu lassen, doch mein Vater lehnte unserer Ehre wegen ab, obwohl der Anwalt gleichzeitig materielle Vorteile für unsere Familie versprach.
In der Folge wurde das Ansinnen aber von einem vormaligen Unionsminister erneut an unseren Vater herantragen. Wir waren damals in Gefahr, der neu erlassenen Landreformgesetze wegen, unsere letzten verpachteten Ländereien zu verlieren. Da war nicht ratsam, sich die hohe Protektion zu verscherzen. Zudem drängte der Verwalter, dem mein Vater gemäss seinen nicht lupenreinen Abrechnungen riesige Summen schuldete, auf den unehrenhaften Handel einzugehen, um diese Schulden beglichen zu haben. Und auch ich war, gestehe ich, für die Adoption, da mich das Gerede in das mein jüngerer Bruder geraten war, so quälte, dass ich oft erwog, den Cousin und Swamidas umzubringen. Gegen die Adoption sprachen nur unsere Ehre und die Tränen der Tante, deren Einwände aber niemand von uns zu beachten gewohnt war.
Anfang November wurde mein jüngerer Bruder vom Fahrer des Weissen, der sich selbst bei uns nie zu zeigen wagte, mit einem importierten Wagen abgeholt. Ich war erleichtert, Hari loszuwerden, und sein Geheul bei der Abfahrt rührte mich nicht, und auch nachher hatte ich lange Zeit weder Gewissensbissen noch Sehnsucht, ihn wiederzusehen. Ich redete mir ein, die Adoption sei für Hari das Beste gewesen, und vergass ihn.
In kurzer Zeit wandte sich unser Schicksal zum Bessern. Wir konnten uns wieder anständig kleiden und ich durfte das College besuche. Die Schulden meines Vaters wurden beglichen. Doch nur fünf Monate nach dem Weggehen meines Bruders, dessen ich mich ungern erinnerte, verschied unser Vater. Des Ansehens unserer Familie willen forderte ich Hari telegraphisch auf, dem Begräbnis beizuwohnen.
Tags darauf wurde er gebracht, im selben Luxuswagen. Mir schien, dass er zu einem gewöhnlichen Lustknaben geworden war. Er trat trotz seiner Blindheit mit beeindruckender Würde auf. Er trug Kleider aus feinstem schwarzem Batist, wobei Hemd und Mütze ausserordentlich kunstreich schwarz auf schwarz bestickt waren. Dazu hing ein prachtvoller alter schwarzer Kaschmirschal mit Silberstickerei über seiner linken Schulter, und seine Füsse steckten in ebenfals mit Silber bestickten schwarzen Ledersandalen. Sein fürstliches Auftreten ärgerte mich, — während der Trauerreden versuchte ich, den Preis seines Schals zu schätzen, dreitausend, fünftausend Rupien? -- Geld schien keine Rolle zu spielen in jenem Haus, -- es stand einem jüngeren Bruder schlecht an, in der Gegenwart seines älteren Bruders zu protzen, wenn auch diese Demonstration von Reichtum unserem Hause zugute kam.
Die gebräuchlichen Feierlichkeiten machten nötig, dass er die Nacht in unserem Hause verbrachte, wobei er von dem Fahrer und einem aus Lucknow mitgebrachten Diener umsorgt wurde. Abends setzte sich mein Bruder zu mir und hielt mich längere Zeit umarmt, was mir äusserst zuwider war. Ich stiess ihn weg und befragte ihn über sein Leben in Lucknow.
Syed 'Aziz Husain
Wir brachten unserem Haus nur Schande. Seit dem Tode unserer seligen Mutter, und weil Vater sich nie um uns kümmerte, hatten wir uns an Euch geklammert, doch nun war Euch Geschwätz zu Ohren gekommen. Ihr fragtet nicht, was Wahrheit ist, und ob freiwillig oder gezwungen, sondern fluchtet uns: "Wärt nur Ihr bei der Geburt gestorben, statt unserer seligen Mutter! Wenn Ihr wenigstens den Mut hättet, Euch umzubringen! Wir werden Euch wohl selbst erschlagen müssen!"
Recht wäre, vom Dach des Hauses ins Leere zu springen, worauf warteten wir? Wir waren blind und fielen unserem Haus zur Last. Doch mochten auch unser Haus und das ganze Quartier sich einig sein, dass wir nie unser Leben selbst verdienen, nie heiraten können würden, was scherte es uns? Wir waren gewöhnt, ein Krüppel zu sein, nutzlos in einer Ecke zu sitzen, hören zu müssen, was andere über uns sagten, ohne mitzureden, oder auch gar nicht mehr zuhörend, uns im Kopf Filmlieder vorsingend. Wir sahen ein, dass wir unseres Namens willens längst hätten ein Ende machen sollen, aber wir wollten nicht, denn wir hatten einen Traum, zwei Worte nur: Bombay, Playbacksänger[8]. Ein drittes Wort gab es auch, doch davon handelten schon die Lieder die unser Kopf uns endlos vorspielte, Freundschaft.
Es lief eine unserer vielen Lieblingsplatten, Mein Name ist Joker.[9] Eine Mutter wie Lata Mangeshkar wünschten wir uns, ihre Stimme schien zu versprechen, dass, schafften wir es nur nach Bombay, sie uns Obdach gewähren würde, obgleich wir ahnten, dass Zehnmillionen sich von dieser Stimme Liebe versprachen.
[In Swamidas' Laden] Wir lehnten an die kühle Glastheke und stellten uns vor, wir sängen selbst.
Ein Kunde betrat den Laden, verlangte die Story-Kassette zu "Navrang", stiess uns mit dem Fuss, entschuldigte sich halb, fragte wie so oft, "ist er blind?"
"Ja, von Geburt."
"Schade, so ein hübscher Bub!"
"Wie heisst er?"
Swamidas sagte zu uns, "'Aziz!"
"Ach so, ein Muslim!"
"Er hat eine gute Stimme!"
Seit wir fünf, nein sechs Jahre alt waren, hatten wir uns vorgestellt, mit dreizehn spätestens, würden wir in Bombay sein und Lata Mangeshkar vorsingen. Unsere Lage war hoffnungslos, doch daran dachten wir selten, denn in unserem Kopf sangen wir pausenlos die Filmlieder. Wir vergassen alles, hier und zuhause, vergassen auch, dass Ihr uns des Geschwätzes wegen verboten hattet, das Haus zu verlassen, wir träumten und waren glücklich. Warum uns umbringen? Sollten sie uns doch totschlagen! So lange wir lebten, würden wir hierher kommen oder ins Kino Vier Türme gehen, wo uns der Besitzer gratis einliess, weil wir ja nichts sahen, und die Filmlieder hören und auswendig lernen.
"Wie ist er? Kostet's was?"
Unsere sogenannte Schönheit war die Ursache Eurer Wut, denn sie hatte uns im Quartier den Übernamen "Hari"[10] eingetragen, in Vaters und Euren Augen ein massloser Schimpf[11]. Doch solange die Musik ertönte, waren wir zufrieden, und wenn Swamidas Tee bestellte und Süssigkeiten, vergass er uns nie. Arg war, dass er uns mit einem unziemlichen Interesse bedrängte, das wir nicht im selben Mass verspürten. Sicher sehnten wir uns nach der Liebe, von der in allen Liedern gesungen wurde, doch stellten wir uns darunter nicht diese heisse, klebrige Sache in dem mit altem Gerümpel gefüllten Hinterzimmer des Musikladens vor, doch Swamidas ging noch, Onkel war eklig und Cousin grob, nicht geschlagen und beschimpft zu werden, hätte uns gereicht. Der Rest, -- war es nicht notwendigerweise Schicksal eines, der sich nicht wehren konnte?
Am Abend würde wir heimgeholt werden, zu Vorwürfen und kaltem Essen, dann wieder in einer Ecke der Halle in Ruhe gelassen werden, bis die Hitze nachliess und man sich auf dem Dach aufs Bett legen konnte.
…
"Hari, Du wirst gerufen," Insan[12], der Sohn der Magd, packte uns bei der Hand und zog uns in die Hitze der Strasse.
"Ein Herr Advokat ist angekommen, Euer Vater liess nach Euch verlangen."
Unsere Füsse stolperten über die unebene Strasse, heissen Staub, glatte Bananenblätter, nassen Bettelsaft oder Kuhmist, dann die kühlen Pflastersteine im schattigen Gässchen bis zum Tor des Hauses.
Der Herr Advokat fragte uns, "wie alt seid Ihr?"
"Vierzehneinhalb, Herr,"
"Habt Ihr beten gelernt?"
"Wir sind blind, habt Mitleid, Herr!"
Vater fragte, "wann kommt der Herr Herr?"
"Hoheit werden sich nicht bemühen!"
Vater sagte, "Geld?"
Der Herr Advokat antwortete höflich, "wie besprochen!"
Wir hörten es rascheln. Der Herr Advokat nahmen unsere Hand, "Mittwoch werden wir Euch holen lassen." Er liess den Fahrer hereinholen, "Du holst diesen Buben hier Mittwoch ab, er wird in des Herrn reichem Haus bleiben." Er verabschiedete sich umständlich, doch zu rasch um wirklich Ehre zu erweisen, von allen, selbst von uns.
Vater sagte, "bis zum Wagen!"
"Nicht notwendig!"
…
Kaum war der Advokat fortgegangen, schrie Onkel, "wir haben ihn gefüttert, das ist unser Geld!"
Mutter [die Frau des Verwalters] hielt unsere Hände, "Ihr werdet in einem reichen Haus leben," strich uns über die wilden Haare, "mein Kind, werdet Ihr uns vergessen?" Mutter allein war uns zugetan.
Vater und Onkel stritten, Ihr sagtet respektlose Wörter, sie beschimpften Euch. Ich begann zu weinen aus Angst um Euch, doch ihr wart schon weg.
Der Cousin plapperte, "habt Ihr das Auto gesehen?"
Wir wollten uns wieder verdrücken, aber Vater packte uns am Arm, sagte, "wie er aussieht, welche Schande!" gab uns zwei Ohrfeigen, "wird er eigentlich nie gewaschen" befahl Mutter, doch wer würde es bezahlen? "morgen seine Haare schneiden lassen!" Dann verliess, vielleicht über Bargeld verfügend, Vater das Haus.
…
Während Cousin uns, wie er es nannte, beim Baden half, hatte er die Freundlichkeit uns zu offenbaren, "jener Herr Herr ist ein Weisser!"
Wir wussten, worauf Cousin aus war, und flüchteten doch nicht. Zu entscheiden, ob ein Weisser schlimmer war oder besser, hatten wir nicht die Kraft.
Aus Filmen kannten wir der Weissen krächzende Stimmen, wir hatten gehört, dass die Weissen masslos reich waren, A/C Häuser bewohnten, A/C Wagen fuhren, Drogen schmuggelten, Frauen misshandelten, Alkohol tranken und Schweinefleisch assen, der Gedanke schon reizte uns im Hals. In Faizabad waren Weisse selten anzutreffen, und bis in unsere Gasse hatte sich noch keiner verirrt. Viel Gutes erwarteten wir von Weissen nicht.
Während wir pissten, sagte Cousin, "die Weissen waschen sich nie, liegen nackt in der Sonne und sind immer heiss!" und bat, sich unserer Freundschaft zu erinnern, falls wir zu Geld kommen sollten.
Vaqil Sahib[13] hatte nicht wie ein Schmuggler getönt. Wenn der Herr Herr es gut meinten! Mehr als den unbekannten Weissen, den wir uns wie Onkel vorstellten, fürchteten wir das reiche Haus, indem wir uns nicht zurechtfinden, das fremde Quartier, wo wir keinem willkommen sein würden. Schlimmer als hier konnte es nicht sein, doch die Gasse, wo wir uns auskannten, Swamidas und die Freunde verlassen zu müssen, zerriss uns das Herz.
…
Bis zur Ankunft Mahmud Sahibs, Ihrer Hoheit Fahrer, verblieben wir in dieser geistigen Lähmung. Die Aufregung unter den Frauen, die seine Ankunft auslöste, die Tränen unserer Mutter, nahmen wir nur wie von ferne war. Des Weissen Fahrer stellte sich uns als 'Sayid Mahmud' vor und sagte höfliche Worte. Mutter und die Magd klagten. Hätte nicht Mutter uns Gesicht und Haare gewaschen und uns Cousins altes Hemd und Hosen angezogen, so wären wir wohl in Lumpen und ungekämmt aus dem Haus gegangen.
Uns war, als hätten wir Haschisch geraucht, alles drehte sich; zum Glück liess uns Swamidas zum Abschiednehmen in seinen Laden rufen. Ein Bub brachte Tee; wir hielten Swamidas' Hände, Tränen flossen; halb im Scherz sang Swamidas unsere Lieblingsverse
Ohne den Geliebten trinken lässt sich nicht;
Ohne den Geliebten leben lässt sich nicht.
Ohne den Geliebten gedulden lässt sich nicht,
Sagen ja, doch machen lässt sich's nicht.[14]
und schenkte uns die Kassette 'Feuer!'[15]. Er versprach, uns in der Hauptstadt zu besuchen, doch das Quartier oder gar die Gasse, wo wir leben würden, kannten wir nicht. Bald kam Insan, uns zurückzuholen; Swamidas umarmte uns, der Bub zerrte uns die Stufen in die Gasse hinunter; wir stolperten hinter ihm her wie zur Hinrichtung.
Vor dem Tor stand Onkel und redete auf Mahmud Sahib ein unserer Kleider wegen, als hätten wir noch andere Kleider als Hemd und Hose, die wir trugen. Mutter schlang uns weinend ein Band mit geweihten Münzen um den linken Oberarm, die Magd heulte, Onkel versuchte, Mahmud Sahib ein Trinkgeld aufzunötigen. Wir verbargen die Kassette vor Cousin; sich zu wehren oder wegzulaufen, war es zu spät, wir waren ohnmächtig.
Mahmud Sahib drängte zur Abfahrt, weder Vater noch Ihr wart zugegen, Abschied zu nehmen, Vater lag, nahmen wir an, betrunken im Hause eines verwitweten Freundes, Ihr hattet Euch zu einem Freund Herrensohn geflüchtet.
Insan band uns ein Ya Allah! an einem starken Faden um den Hals. Mutter, die Magd und Insan weinten und baten, ihnen über unser Ergehen, bald Nachricht zukommen zu lassen.
Der Abschied vom Cousin fiel uns leicht. Er bat um Erlaubnis zu fragen, wie schnell der Wagen fahre und ob er A/C sei. Mahmud Sahib nahm uns sanft beim Arm und setzte uns in den Wagen. Die Türen wurden geschlossen, die Stimmen waren kaum noch zu vernehmen. Der Wagen fuhr ab und trug uns weg vom Haus, dem Weissen entgegen. Wir lagen mehr als sassen, halb ohnmächtig, es war das Ende. Er konnte uns nur töten, mehr gab es nicht als den Tod.
…
Der Wagen fuhr schnell. Die Scheiben blieben geschlossen, es war ein A/C-Auto. Die Luft war frisch und kühl, wir erholten uns ein wenig. Irgendwo, wo es Tee gab, hielt Mahmud Sahib an.
"Möchtet Ihr etwas trinken? Habt Ihr Hunger? Ihr müsst sprechen! Wenn Ihr müde seid, so legt Euch hin, hier ist eine Decke!" Er gab uns einen weichen Schal, das brummende, schaukelnde Auto schläferte uns ein.
…
Lärm vieler Autos, Busse, Lastwagen und Tempos, Hupen und Klingeln weckten uns. Wir sassen auf, in den Schal gehüllt. Mahmud Sahib zu fragen, ob wir in der Hauptstadt angekommen seien, wagten wir nicht. Der Wagen fuhr und hielt, fuhr und hielt, hupte; ein eisernes Tor klang; noch ein Stück, der Motor verstummte. Waren wir da?
Jemand öffnete die Wagentüre mit dem Friedensgruss. Draussen war es heiss. Mahmud Sahib führte uns ins Haus, das nach frisch benetzten Steinböden, Duftgras und Jasmin roch; bare Füsse liefen geschäftig.
Mahmud Sahib half, unsere Notdurft zu verrichten, Hände und Gesicht zu waschen. Danach liess er Tee und Süssigkeiten bringen. Während wir zugriffen, fragten wir ihn, "wo ist der Sir?"
"Nachher, Sohn!" Er liess uns allein. Wir wagten nicht, uns zu rühren. Mahmud Sahib schien recht. Obwohl über uns Ventilatoren wirbelten, fieberten wir, die Glieder wurden schwer. Bevor die Süssigkeiten zu Ende waren, versagte uns die Kraft. Nur einen Augenblick wollten wir uns hinlegen, da schliefen wir schon. Im Herzen baten wir Mahmud Sahib zu verzeihen, dass wir die Füsse auf die weichen Polster zogen. Wir spürten, dass er uns zudeckte. Ventilatorenkühle, Kissenglätte, Schalweiche versüssten den Schlaf.
…
Ein Teebecher klingelte in seinem Unterbehälter. Wir streckten uns und fragten laut, vergessend, wo wir waren, "wieviel Uhr ist?"
Mahmud Sahib antwortete von irgendwoher, "viertel vor sechs, Sohn, ausgeschlafen?"
"Wir werden immer hier unter dem Ventilator schlafen, recht?"
"Recht so, jetzt trinkt Tee, Biskuits sind auch da."
Wir setzten uns auf den Bettrand. Er reichte Biskuits, kühlte durch Hin- und Hergiessen den Tee, aufzählend, was im reichen Hause zu tun und lassen sei, in der Hohen Gegenwart. Wir sagten, "Herr, wir müssten mal."
Er führte uns in ein Badezimmer, half zurechtfinden. Während wir Ellbogen und Knie mit warmem Wasser netzten, baten wir im Herzen den Weissen unserer Blindheit wegen um Mitleid. Wir hätten mit Swamidas nach Bombay abhauen sollen. Jetzt war es zu spät. Onkel hatte Geld genommen, nicht einmal sterben durften wir jetzt. Und doch war es hier besser. Schickte der Weisse uns zurück, war alles aus. Onkel und Cousin würden uns fertigmachen.
…
"Zeit zum Gebet!" Mahmud Sahib führte uns in die Trauerhalle. Wir beteten, so gut wir konnten. Danach brachte er uns ins Speisezimmer. Die Beine wollten nicht mehr tragen. Mahmud Sahib setzte uns, bediente wortkarg; wir assen, ohne zu merken, was wir kauten. Wenn uns der Weisse mochte, war es schlecht, wenn er uns nicht mochte, war es noch noch schlimmer, wir sollten lachend vom Dach zu springen mit dem Ruf 'auch wir sind ein Märtyrer in Karbala!'.
Nachdem wir Hände und Mund gespült hatten, sagte Mahmud Sahib, "wartet etwas, Sohn!" und liess uns allein. Wir sassen blöd da, irgendwo sprach Mahmud Sahib mit, der Stimme nach, dem Weissen, dann kam er zurück, führte uns an der Hand in einen kühlen Raum, "grüsst Hoheit!"
"Ehrerbietung, Hoheit!" Wir führten die Hand zur Stirn und verbeugten uns.
"Bleibt am Leben! So seid Ihr also gekommen, kleiner Bruder."
"Besser wäre gewesen, ein Ende zu machen."
"Hier wird Euch nichts Böses widerfahren; Gott hat Euch zu unserem jüngeren Bruder gemacht. Sorgt Euch nicht, dies ist Euer Haus."
Ihrer Hoheit Stimme liess vertrauen, doch nicht zu wissen, was sein würde, lähmte uns. Mahmud Sahib goss Tee ein. Gerne hätten wir gesprochen, doch was gab es zu sagen ausser "gebietet Eurem Sklaven!"
Nach einiger Zeit befahlen Hoheit Mahmud Sahib, "wir werden Musik hören, ihn zu uns setzen!"
Mahmud Sahib setzte uns neben Hoheit, Diener öffneten Türen zum Nebenzimmer. Musiker stimmten, ein junger Sänger begann:
Ich liess den Dieb vor mich bringen;
Doch er erbarmte sich des Beraubten nicht.
Die Verse schienen gut, die Phrasierung war erlesen.
Ich warf mich ihm zu Füssen
Und bat ihn, mich zu richten.
Wir legten uns, es gehörte sich nicht, weinend seitlich nieder. Wenn wir nur sterben dürften! Hoheit berührten unsere Schulter, "verzeiht uns!"
Ich bat den Henker um Gnade,
Doch er fragte mich: Wer bist Du?
Überall waren Diener, wie konnten wir uns töten? Der Sänger endete:
Er glaubte meinen Verleumdern und lachte,
Als ich sagte: 'Erbarme Dich des Lichtlosen.'[16]
Die Türen wurden geschlossen. Ihrer Hoheit Finger berührten unser Ohr, strichen über unsere Haare, "vergebt uns, kleiner Bruder!"
Wir fassten Ihrer Hoheit Hand. Wenn Hoheit es gut meinten! Hoheit sagten, "wenn Ihr etwas begehrt, kleiner Bruder, so sagt es Mahmud Sahib, mit der übrigen Dienerschaft sprecht nicht ohne Not."
"Wie Ihrer Hoheit Wunsch ist, so werden wir handeln."
Dann geboten Hoheit, "seine Schlafenszeit ist gekommen."
Mahmud Sahib führte uns in ein Badezimmer, "das ist Euer Badezimmer, Ihr allein werdet es benützen", und liess uns rundum die Einrichtungen abtasten, "wenn Ihr etwas braucht, ruft uns!"
"Das ist nicht nötig; aus Freundlichkeit ordnet alle Gegenstände stets gleich, damit wir sie leicht finden."
"Das tun wir gern," und nach einer Pause, "Sohn, Zähne putzen mag in Eurem reichen Hause nicht üblich gewesen sein."
"Wir werden, Herr."
Mahmud Sahib liess uns allein. Wir wuschen uns, tauschten unsere Kleider gegen das bereitliegende Wickeltuch, das nach dem Brauch unserer Gemeinschaft vernäht war, dann öffneten wir die Türe. Mahmud Sahib führte uns unter die Ventilatoren, zum weichen Bett und deckte uns zu, "wir ruhen ausserhalb, zögert nicht zu rufen, Sohn. Wacht nicht, Gottes Schutz!" Er entfernte sich.
Später hörten wir Hoheit mit Mahmud Sahib hereinkommen. Hoheit legten sich nieder, "schlaft gut, kleiner Bruder, Gottes Schutz!"
"Gottes Schutz, Hoheit!"
Mahmud Sahib verliess uns. Über uns drehte der Ventilator. Wieviel besser war es hier als auf dem glühenden Dach, wo Cousin jetzt Hitze litt. Doch Schlaf kam nicht. Tausend Dinge wollten gedacht werden. Das reiche Haus, die stummen Diener, die fremde Stadt; keinen Schritt konnten wir hier tun; wie frei hatten wir gelebt! In der Gasse waren alle unsere Freunde gewesen! Wir hörten, dass auch Hoheit nicht schliefen. Wenn Hoheit es gut meinten! Verloren schluchzten wir auf.
Hoheit sagten leise, "kleiner Bruder?"
"Verzeihung, Ihrer Hoheit Sklave ist verwirrt, Schlaf kommt nicht."
"Weint nicht, kleiner Bruder, Mahmud Sahib soll Euch vorlesen." Hoheit riefen, "Mahmud Mian, vorlesen!"
Mahmud Sahib kam und begann eines der Trauerlieder Anis' zu lesen:
Als des Tages Karawane die Wüste der Nacht durchschritten,
Liess der Morgen den Horizont erröten.
Die letzten Sterne verblassten,
Der erste Ruf zum Gebet ertönte,
Der Nacht dunkle Maske erbleichte und
Die Erde überflutete gleissendes Licht…[17]
Im neuen Haus die alten Verse zu hören, beruhigte uns. Trauertränen lösten die Beklemmung. Mahmud Sahib fragte, "Sohn, werdet Ihr jetzt schlafen?"
"Wir schlafen, Herr." Wir schliefen, wachten, schliefen wieder. Das Bett schien uns hierhin und dorthin zu tragen. Niemand würde etwas erfahren. Wenn Hoheit es gut meinten! Im Traum waren wir in unserer Gasse und bei Swamidas im Laden.
…
Wir erwachten mit den Geräuschen unserer Gasse, Swamidas' Musik Klang im Ohr. Stille erinnerte uns, wo wir waren; in Ihrer Hoheit reichem Haus, was wollten Hoheit von uns? Was bedeutete:
Ich liess den Dieb vor mich bringen;
Doch er erbarmte sich des Beraubten nicht.
Ich warf mich ihm zu Füssen
Und bat ihn, mich zu richten.
Ich bat den Henker um Gnade,
Da fragte er mich: 'Wer bist Du?'
Er glaubte meinen Verleumdern und lachte,
Als ich sagte: 'Erbarme Dich des Lichtlosen.'
Einen Dichter namens 'Lichtloser' kannten wir nicht. Die Verse
Ich bat den Henker um Gnade,
Da fragte er mich: 'Wer bist Du?'
ergriffen das Herz. Nicht zu weinen, gaben wir uns auf, einen weiteren Vers zu finden; erst kam in den Sinn:
Meine Tränen wuschen seine Füsse;
Doch er spottete, 'Sommerregen erfrischt nicht.'
Das schien zu leicht. Wir suchten weiter, bis sich fand:
Ich bat ihn, mich zu töten,
Doch er genoss meiner Ketten Klang.
Das war ein schöner Vers. Die Anstrengung machte uns munter; Unsinn fiel uns ein, wir reimten auf 'Hitze' und 'hauen'. Wir setzten uns auf die Bettkante. Jemand kam näher, wir erkannten Mahmud Sahibs Schritt, "Ihr habt das erste Gebet verschlafen, Sohn, morgen werden wir Euch wecken."
"Verzeiht, in unserem armen Hause wurden die Gebetszeiten nicht so streng beachtet."
"Es ist Ihrer Hoheit Befehl."
"Wie Ihrer Hoheit Wunsch ist, so werden wir handeln."
"Nun wascht Euch schnell!"
"Ja, Herr." An seiner Hand fanden wir leicht zum Badezimmer. Wir wollten nicht säumen, nur nach dem Waschen das Parfümöl versuchen, da entglitt uns der Deckel, rollte irgendwohin, schwer zu finden, das Badezimmer war gross, wir stiessen uns den Kopf, eine Riesendummheit. Endlich traten wir auf den Deckel. Schnell zogen wir die zurechtgelegten Kleider an. Hemd und Hose schienen unseren Massen entsprechend geschneidert. Wir tasteten uns zur Türe. Sobald wir durch Berührung des Riegels ein Geräusch verursachten, öffnete Mahmud Sahib die Türe von aussen, nahm uns beim Arm und führte uns auf eine sonnenwarme Terrasse, liess Tee bringen.
Zwischen zwei Schlücken fragten wir Mahmud Sahib, "wo sind Hoheit?"
"Sohn, sind die Kleider bequem, sollen wir etwas ändern lassen?"
"Nein, Herr, sie sind recht, was machen wir jetzt?"
"Wenn Ihr wollt, lesen wir Euch vor."
"Gut, Herr. Von wem waren die Verse gestern abend? Noch nie von einem 'Lichtlosen' gehört."
"Nachher, Sohn."
Würde er uns nie antworten? Verstimmt sagten wir, "Vorlesen ist nicht nötig."
"Sohn, Hoheit mögen nicht, wenn Diener schwatzen. Wenn Ihr etwas Ihre Hoheit Bezügliches erfahren wollt, so fragt Hoheit selbst. Sollen wir Euch jetzt aus Ruswas 'Herrensohn' vorlesen?"
"Kennen wir nicht."
"Wird Euch gefallen." Er begann zu lesen.
Ach! Heute ist der zweite Tag, dass Frau und Kinder ohne Essen bleiben. Die Gesichter der Menschen, die ihm auf der Strasse entgegenkommen, erscheinen ihm allzu fröhlich. Die Läden der Gemüsehändler sind mit Früchten und Gemüsen überfüllt. Die Bäcker ziehen heisse Milch‑ und Hefebrote aus dem Ofen. Rundum steigt aus Frühstückspfannen heisser Dampf auf. Im Laden des Zuckerbäckers wird frisches Halwa Sohan zubereitet. Die Strasse ist voll von Gerüchen. In den Läden der Halwa‑Macher ist Halwa, sind Puris, Katschoris und Süssigkeiten auf Blättern ausgelegt. Gar nichts davon ist unser oder unserer armen Frau und Kinder Teil. Die Leute lassen die Rupien wie Glöcklein klingeln. Im Laden des Geldwechslers liegen haufenweise Paisas. Und wir können nicht einen einzigen Paisa auftreiben, um den eigenen Kindern Kichererbsen zu kaufen.[18]
Die Sonne wärmte, über uns drehte der Ventilator, wir dachten an unsere Gasse und die süssen, süssen Honigpuris, die Swamidas in den Laden kommen liess. Würden wir je wieder seine Hände halten? Wir wollten Mahmud Sahib zuhören, doch Swamidas gab uns nicht frei.
…
Ein Eisen erklang.
"Sohn, Frühstück ist bereit!" Mahmud Sahib führte uns von der Terrasse in den kühlen Raum, "grüsst Hoheit!"
"Ehrerbietung, Hoheit!" Wir führten die Hand zur Stirn und verbeugten uns.
"Bleibt am Leben!" und zu Mahmud Sahib gewandt, "hat er schon gegessen?"
"Biskuits und Tee hat er bekommen, sonst nichts, Hoheit."
"Habt Ihr Hunger, kleiner Bruder?"
"Ein bisschen viel, Hoheit."
"Und Angst?"
"Gar nie, nur bitten wir, Ihrer Hoheit Sklaven Fehler zu verzeihen."
"Sorgt Euch nicht, kleiner Bruder. Hier werdet Ihr glücklich leben. Wenn Ihr Befehle achtet, werdet Ihr ohne Kummer sein. Würdet Ihr auch mal etwas singen für uns?"
"Wann immer Hoheit wünschen. Sollen wir", das fiel uns als erstes ein, "'Ohne den Geliebten' singen? Wir haben auch eine Kassette mitgebracht, 'Feuer!', möchten Hoheit sie hören?"
"Singt, die Kassette wollen wir später hören."
Wir hoben begeistert und laut an:
Ohne den Geliebten trinken lässt sich nicht;
Ohne den Geliebten leben lässt sich nicht.
Ohne den Geliebten gedulden lässt sich nicht,
Sagen ja, doch machen lässt sich's nicht.
Ohne Liebe werd ich irr, und Irre lieb ich nicht.
Gib Irren keinen Rat, oh Herr der Welt,
Denn Irren raten lässt sich nicht!
Hoheit lobten unsere Stimme und befahlen Mahmud Sahib, "morgen Herrn Lehrer rufen lassen!"
Diener bedienten barfuss. Mahmud Sahib bat für uns um Erlaubnis und führte uns in einen andern Raum, in dem es herrlich nach Frischgebackenem roch, setzte uns und forderte uns auf, "in Gottes Namen beginnt."
Glockendeckel klangen, Mahmud Sahib fragte, "mögt Ihr fritiertes Gemüse mit scharfer Sauce essen?"
"Sicher, Herr!" Wir fühlten, wo der gefüllte Teller stand, wo der Wasserbecher. Bevor Mahmud Sahib uns eine Serviette umlegen konnte, waren wir schon am Zulangen. Solches Essen kannten wir nur von Hochzeiten. Solange die Erinnerung reicht, hatten wir morgens nur kalte Fladenbrote mit wässrigen Linsen gegessen. Wir assen, als ässen wir im Leben zum ersten Mal, selbst das Wasser schmeckte besser als zu Hause. Mahmud Sahib half, Mund und Hände zu spülen. Wir tasteten, ob das Hemd sauber geblieben war, "Mahmud Sahib, wie sind die Kleider, ist auch nichts runtergefallen?"
"Alles ist recht, sorgt Euch nicht."
"Sollten wir Hoheit jetzt die Kassette hören lassen?"
"Wie Euch beliebt, wenn Ihr bei Hoheit niedergesessen seid, wollen wir sie holen." Er führte uns zurück; es gab Tee. Wir tranken ein bisschen, vorsichtig, wenn wir dank Mahmud Sahibs Serviette das Essen ohne Flecken überstanden hatten, wollten wir nicht zum Schluss alles verderben. Hoheit fragten uns, "wie scheint das Essen, kleiner Bruder?"
"Überaus gut, möchten Hoheit jetzt die Kassette hören?"
"Wir wollen sie drinnen hören, kleiner Bruder." Hoheit liessen uns in einen geschlossenen, eiskalten Raum führen, wo wir neben Hoheit auf weiche Polster zu sitzen kamen. Wir platzten heraus, "hier ist es kalt."
"Friert Euch?"
"Nein, Hoheit, es ist recht."
Mahmud Sahib kam, ein Gerät klickte sanft. Um uns begann das Intro, der Ton war besser als im Kino Vier Türme. Die Musik umbrauste uns in der kalten Luft von allen Seiten. Wir hofften, Hoheit möchten unsere Freude teilen, und streckten die Hand nach Ihrer Hoheit aus. Uns war, Hoheit selbst seien es, die kühl, voll klarer Töne, schnell und stark, voll feinster Düfte und Gewürze seien. Wir neigten den Kopf seitlich auf Ihrer Hoheit Schulter, da kam das erste Lied, wir sassen auf und sangen mit:
Diese Freundschaft
Wird nicht
Zerbrechen;
Zerbrechen
Wird sie nur
Unser Tod.
Mein Sieg ist Dein Sieg,
Dein Tod ist mein Tod,
Höre mein Freund:
Dein Leid ist mein Leid,
Meine Kraft ist Deine Kraft,
Wir spielen um Leben oder Tod
Und nehmen's mit allen auf.
Man sieht zwei,
Doch wir sind eins,
Nicht getrennt und nicht zerstritten:
Um Gottes Willen!
Essen trinken miteinander,
Leben sterben miteinander,
Das ganze Leben!
Diese Freundschaft
Wird nicht
Zerbrechen;
Zerbrechen
Wird sie nur
Unser Tod.[19]
Wir vergassen, dass wir nicht im Kino waren. Die Nähe Ihrer Hoheit berauschte uns. Wir sangen, ritten und kämpften, waren mal Amitabh Bachchan, mal Dharmendra, mal der böse Amjad Khan[20].
Als die Musik endete, liessen Hoheit wieder Tee und Süssigkeiten bringen, "würdet Ihr etwas Süsses essen oder Eis?"
"Nichts, Hoheit, gar nichts." Wir kosteten ein paar süsse Puris, zwei, drei gebackene Bällchen in Rosenwasser und ein Barfi. Dann fragten Hoheit nach unserem Leben zu Hause. Was konnten wir antworten? Wir hatten gelebt wie ein Tier, nur Swamidas war gut gewesen; nun hatte man uns verkauft. Warum darüber sprechen? Wir sagten, "alles war recht", und fragten, um abzulenken, "warum haben Hoheit nicht einen heilen Buben genommen, wir taugen ja zu keiner Arbeit?"
"Zum Arbeiten sind hier genug Diener, Ihr sollt Niedergeschlagenheit und Alleinsein von uns fernhalten. Wir dachten, dass Euch weniger schwerfiele, unsere Tage zu teilen, als einem sehenden Buben, dem es bald zu langweilig würde um uns."
"Warum, Hoheit?"
"Der möchte Kricket spielen, Drachen steigen lassen, ins Kino gehen; wir dachten, Euch könnte genügen, bei uns zu sein."
Wir sagten, "sicher genügt es uns, Hoheit." Hoheit würden nicht verstehen, dass wir in unserer Gasse glücklich waren, dass des Vier Türme Besitzer uns manchmal gratis einliess, weil wir nichts sahen.
…
Ein Tag verging, und ein zweiter, wir gewöhnten uns an das reiche Haus, das gute Essen. Hoheit liessen uns Musik hören, ein Herr Lehrer kam, Übles begegnete uns nicht. Immer schien ein Diener unsere Hand zu fassen, bevor wir uns stiessen. Hoheit meinten es gut. Doch Swamidas und unserer Gasse Geräusche und Gerüche fehlten uns; niemand schwatzte, niemand lachte, niemandes Hände verrieten, was Lippen verschwiegen.
Eines Nachts hielten wir es nicht mehr aus. Kaum hatte sich Mahmud Sahib entfernt, baten wir Hoheit leise, "ist Fragen erlaubt?"
"Fragt, kleiner Bruder."
"Wie scheinen wir, Hoheit?"
"Kommt her!"
Wir tasteten uns zu Ihrer Hoheit Bett. Nur nicht stolpern und Mahmud Sahib aufschrecken! Unsere ausgestreckte Hand traf Ihrer Hoheit Körper, "Verzeihung, Hoheit!"
"Legt Euch hierher", Ihrer Hoheit Hand berührte unsere Schultern, glitt uns über Hals und Gesicht, "gut scheint Ihr uns." Dann tasteten Hoheit nach unserer Hand und legten sie sich auf die Stirn und die leeren Augenhöhlen, "Erbarme Dich des Lichtlosen!"
(Gemäss Informationen des Herrn Rechtsanwaltes schlossen sich Hoheit und mit ihm zusammen Syed 'Aziz Husain 1979 einem Faqir-Orden an. Hoheit starben 1980.)
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Dr. Syed 'Abid Husain
Direktor Abt. Gesundheitsstatistik.
Weltgesundheitsorganisation
New York
Blind war er und hilflos, doch ich war fünfzehn, eitel und reizbar und hatte genug davon, "naubulbul ke bhai", der jungen Nachtigall Bruder, "dilruba ke bhai", Herzdiebs Bruder, zu sein. Was immer ‘Aziz[21] tat oder ihm geschah, empfand ich als mir von ihm zuleid getan. Seine helle Haut, der fiebrige Glanz seiner wirr rollenden Augen, seine verführerische Stimme, wenn er Qawalis nachsang oder improvisierte, alles war eine Plage. Warum konnte er nicht einfach aus meinem Leben verschwinden?
Ich hasste meinen Cousin, die beiden Schamlosen vom Musikladen und die Halbstarken aus unserem Viertel; doch schuld an unserer Schande war allein ‘Aziz. Wenn er wenigstens wie andere Blinde in einem Heim gelebt, wie Ved Mehta[22] oder Helen Keller[23] studiert, weit weg, oder zumindest das Haus nie verlassen hätte. Aber nein, er musste, obwohl blind wie eine Eule am Tag, behaupten, er sehe — ich gebe zu, dass er herumrannte, fast als sähe er. Ich sehe ihn noch vor mir — meine einzige Erinnerung an die Zeit, bevor er uns alle zum Gespött werden liess —, wie er, ein kleiner, zierlicher Bub mit strahlendem Gesicht, seinen leichten Eisenreifen an einer Eisenstange durch die staubige Gasse trieb, zum hellen, schleifenden Ton des Eisens mit hoher Stimme singend "chota sa pul…"[24].
Auch ein kleines Brücklein ist eine Brücke,
Auch ein kleines Lichtlein ist ein Licht.
Doch nun war er dreizehn und hing, obwohl vollständig blind und unfähig, sich zu wehren, bis spät in die Nacht beim Kino und in dem Musikladen herum, wo er, und auch auf dem Heimweg im Dunkeln, sich von allerhand Lumpen vergewaltigen liess. Ich hätte ihn am liebsten nachts vom Dach unseres Hauses, wo wir der Hitze wegen schliefen, oder tags auf der Hauptstrasse vor einen Lastwagen gestossen. Jedesmal war es ein Spiessrutenlauf, Kazmain[25] zu durchqueren, um ins College zu gelangen; so schnell ich auch auf der verlöcherten Strasse mit dem Velo fuhr, überall schienen meine Ohren die verhassten Namen und Wörter zu hören; wurde ich gar angehalten und nach meinem süssen Bruder gefragt, so begann ich am ganzen Körper zu zittern. Als Collegestudent genoss ich einen gewissen Respekt, doch mit den lokalen jungen Nichtsnutzen war nicht gut streiten, allzuschnell hatten sie ein Messer oder einen mit Blei ausgegossenen Bambusstock in der Hand, und wem es gelang, sie im offenen Kampf zu besiegen, dem lauerten sie gewiss nachts auf und erstachen ihn. Ich fuhr, so schnell es ging, fuhr Umwege durch die angrenzende Kashmiri Mohalla[26], doch überall hörte ich "naubulbul…"[27], "dilruba…"[28] oder noch schlimmer "erstklassiger…"[29] und wusste mir vor Schande nicht mehr zu helfen.
Stellte ich ‘Aziz zur Rede, so hiess es, "was geht’s Euch[30] an, hier im Haus ist’s auch nicht besser", womit er meinen verkommenen Cousin meinte. Mit Vater wagte ich darüber nicht zu sprechen, und Onkel, Tante oder Cousin zu verärgern, konnte ich mir nicht leisten, musste ich doch froh sein, dass ich das College besuchen durfte. Vater und Onkel stritten jeden Tag darüber, wieviel meine Schule koste, dass Cousin ein Taugenichts sei, Vater alles vertrinke und verspiele, Onkel stehle, was Vater gehöre… das Beste war, möglichst wenig zu Hause zu sein, sich irgendwo zu verkriechen.
An einem heissen Maitag fand ich, von der Schule nach Hause kommend, die ganze Nachbarschaft und unser Haus in grösster Aufregung. Vor unserem Hause sassen fünf, was Kinder "nile admi"[31], blaue Männer, und die Erwachsenen "darwesh"[32] nannten, Faqire[33] (eigentlich waren es "qalandar"[34], aber das wusste ich damals noch nicht) in blauen Hemden, und drinnen im Hause zankten Vater und Onkel, Tante und Cousin. ‘Aziz, der sie angeschleppt hatte, hockte in einer Ecke und weinte leise vor sich hin. Meine Tante sagte mir, dass ‘Aziz' Vater um Erlaubnis gebeten hatte, sich diesen Faqiren anzuschliessen. Die Faqire, wie es ihre Art ist, sassen frech und stumm da, als wäre ihnen zuwenig gegeben — das angebotene Essen hatten sie abgelehnt — oder ein Unrecht angetan worden. Dass einer aus unserer Familie Faqir würde, war undenkbar; noch mein Grossvater hatte Königen als Minister gedient, und nun wollte mein Bruder bettelnd von Haus zu Haus ziehen. (Lakhnau[35] ist nicht Delhi[36]; Faqire, Derwische, "qalandar", gelten hier nichts. Um so grösser ist die Angst, die sie einflössen, denn an ihrer magischen Macht zweifelt niemand.) Ob ich nun Bruder eines … war oder eines Faqirs; seinetwegen verloren wir das Gesicht. Während Vater und Onkel stritten, ob ‘Aziz besser erschlagen, erwürgt oder gesteinigt werde, und wer an seiner Blindheit, Blödheit, unserer Schande schuld sei, wurde es Nacht.
Die Faqire zogen ohne Segenswunsch ab, ein schlechtes Omen. ‘Aziz sass in seiner Ecke, als gehe ihn alles nichts an. Vater betrank sich aus einer Flasche mit einem angeblichen Medikament, billigem Bauernfusel; Onkel fiel ins alte Lied, dass Vater, nichts leiste, nur esse und trinke, ein Säufer und Spieler sei, während er, Onkel, sich um alles kümmere, uns alle durchbringe. So war es auch: Vater arbeitete sein ganzes Leben nie, und wenn er Geld in die Finger bekam, so vertrank und verspielte er es. Onkel hingegen war ein tüchtiger Mann; Stück um Stück verkaufte er, was vom einstigen Reichtum der Familie noch übrig war, Häuser, Land, Möbel, Schmuck, Geschirr und Bettzeug; darüber hinaus arbeitete auch er, soviel ich weiss, nie, und auch Cousin, der Taugenichts, arbeitet nichts.
Am nächsten Tag fühlte sich Vater unwohl, blieb den ganzen Tag liegen, klagte über Fieber und Durst – es war die heisseste Zeit des Jahres und furchtbar schwül –, wir waren uns einig, dass Vater selbst schuld war, dass er zuviel getrunken hatte, zudem war es so schrecklich heiss, selbst nachts, dass man kaum noch denken konnte vor Hitze. Ich blieb vom frühen Morgen bis spät in die Nacht im Schulgebäude, in dem riesige Ventilatoren, wenn der Strom nicht gerade ausfiel, Kühlung verschafften.
Tante kümmerte sich um Vater, gab ihm zu trinken, merkte als erste, dass er am Sterben war; mit viel Schimpfen bewegte sie Onkel, einen Arzt holen zu lassen, der spät kam und nicht gewillt war, etwas zu unternehmen, was ihm nicht zum voraus bezahlt werden konnte. Nach Tagen schlimmen Fiebers starb Vater und wurde sofort begraben. Alle empfanden sein Sterben bei dieser unerträglichen Hitze als eine Zumutung. Am Tag nach der Beerdigung begann Moharram[37]; angeblich drohender Unruhen wegen wurde eine nächtliche Ausgangssperre über die Altstadt verhängt, was zu den üblichen Shia-Sunni[38]- und Hindu-Muslim[39]-Krawallen mit Todesopfern führte. Es war grauenhaft heiss, Onkel litt auch unter Fieber, und das Geld ging aus; ich schlief im College, weil es dort kühler war.
Eines Abends lag ich dösend in einer ruhigen Ecke der Schulhalle auf einer alten Matte, als ein Dienerbub aus unserem Nachbarhaus kam, mir auszurichten, die Faqire seien wiedergekommen und ‘Aziz sei mit ihnen abgehauen. Der Ausgangssperre wegen mussten wir uns an einer dunklen Stelle über die bewachte Nakhasstrasse[40] schleichen, dann durch die engen Gässchen hinter dem Farangi Mahal[41] nach Kazmain, wo es keine Polizeistation gab und entsprechend die Läden halb geöffnet waren. Ein paar Krämer behaupteten, sie hätten ‘Aziz mit den Faqiren gesehen. Ich erniedrigte mich und fragte die Typen im Musikladen nach ‘Aziz. Ja, er hatte ihnen gesagt, dass er weggehe, hatte zu ihnen "alvida"[42] gesagt, "auf nicht wieder in diesem Leben".
Einige Tage wurde in unserem Hause gestritten, ob und was zu tun sei. Onkel meldete schliesslich auf der Hauptwache, dass ‘Aziz vermisst würde, der Form halber; niemandem lag viel daran, ‘Aziz zurückzuhaben; die Hitze und die bleierne Müdigkeit, die sie mit sich bringt, übermannte uns alle.
Ich war an den Prüfungen, und mir schien die Schande, dass ‘Aziz mit Faqiren abgehauen war, leichter zu ertragen als der Spott, den mir vorher seine Gegenwart eingebracht hatte. Bald dachte niemand mehr an ihn; und auch Vater vergassen wir schnell. Geldsorgen, Krawalle, Hitze und sintflutartige Regenfälle, Arbeitslosigkeit, Indira Gandhis Fünfpunkteprogramm "Eine Blaupause der Zukunft"[43] und der Ausnahmezustand: Für Vergangenes hatte niemand Zeit.
Dank guter Noten und ein paar alten Beziehungen, die über die Unabhängigkeit hinaus hielten, gelang mir, in Aligarh[44] Medizin zu studieren. Ich wohnte und ass bei Verwandten, die mir wenig guten Willen entgegenbrachten, aber auch nicht wagten, denen zu widersprechen, die mich protegierten, nämlich der Familie meiner seligen Mutter und insbesondere einem Onkel mütterlicherseits dritten Grades, Navab[45] Rampur[46], Mitglied des Parlaments, Kongresspartei. Er sorgte, dass mir die Studiengebühren erlassen wurden. Die Ferien verbrachte ich im verstaubten Palast in Rampur, wo ich für ihn Bibliothekskärtchen schrieb, für mal zehn, mal zwanzig Rupien Taschengeld und neue Kleider. Ein jämmerliches Leben genau betrachtet, doch war ich mich so gewöhnt, anderen zur Last fallen zu müssen und dies auch täglich zu hören, dass es mich wenig kümmerte. Zudem war ich Delegierter des Jungen Kongresses[47], Vizepräsident der Studentenunion[48], Sekretär der Shia-Jugend[49]; ich verliess mich auf niemanden, hielt für jede Beziehung eine Ersatzbeziehung auf Lager und machte mich überall, wo ich Zutritt fand, mit schnell geleisteter Papierarbeit unentbehrlich.
Für das Studium blieb kaum Zeit, doch hatte und habe ich noch die Gabe, schnell zu lesen, mich gut zu erinnern und leicht zu erkennen, worauf es ankommt. Die Dozenten schätzten, dass ich aus ihren konfusen Skripten präsentable Beiträge für wissenschaftliche Zeitschriften zusammenschusterte; zudem fürchteten sie die drei Organisationen, denen ich angehörte, und dies zu Recht, denn als Wahlhelfer, Plakatkleber und schnell aufbietbare Demonstranten, lagen wir den Politikern mehr am Herzen als die Lehrstuhlinhaber, aus denen, nachdem sie ihre Ernennung abgestottert hatten, nichts mehr herauszuholen war.
Von Aligarh schaffte ich dank dem Jungen Kongress den Sprung nach Delhi, wo ich ohne Computer, gewissermassen auf dem trockenen, programmieren lernte und meine ersten eigenen Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften publizierte. Navab Rampur erreichte, dass meine Bewerbung für ein amerikanisches Stipendium vom Unions-Innenminister unterstützt wurde. So kam ich nach Atlanta, wo ich postgraduate Forschung in medizinischer Statistik betrieb. Auch hier war ich unerwünscht; darum wurde ich Sprecher der ausländischen Stipendiaten, und da – wie überall – einiges zu Recht kritisierbar war und letztlich ich entschied, ob, wann, wie und wo die Diskriminierung der Drittweltstipendiaten besprochen wurde, stellte sich mir niemand in den Weg. Von Atlanta aus und unterstützt — um mich loszuwerden — vom dortigen Universitätspräsidenten bewarb ich mich um eine Stelle bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in der Abteilung für Gesundheitsstatistik, die ich heute leite.
Bei der WHO lernte ich meine Frau Kathy kennen. Sie war und ist alles, was ich nicht bin. Amerikanerin und in Amerika daheim, reich — ihr Vater besitzt eine Baufirma — und in einer Familie aufgewachsen, wo Kinder und Eltern, Brüder und Schwestern aneinander hängen. Kathy arbeitete bei der WHO als Sekretärin; für mich war es eine Vernunftheirat, ein Karriereschritt. Wir haben zwei Kinder, Adam und Joan. Unser Leben ist glücklicher als erwartet — Kathy, Adam und Joan sind alles, was ich habe —, doch sind sie nicht in einem zerfallenden Haus in Kazmain aufgewachsen, und meine Leistungen sind für sie bedeutungslos. Ich bemühe mich, Amerikaner zu sein, Golf, Tennis, Kiwanis, Konzerte, Kunstausstellungen, die neusten Romane. Doch was wäre ich ohne meine Stelle bei der WHO, ohne Diplomatenpass, Kreditkarten, neuen Cadillac und Dunnhill-Blazer und Gucci-Schuhe? – ein blöder Immigrant.
Letzten Winter zeigte das öffentliche Fernsehen eine Reportage über ein ‘Urs[50] in Delhi, wo sich jedes Jahr Tausende von Faqiren am Grabe Muinuddin Chistis[51] versammeln; blutjunge bis uralte Faqire mit geschlechtslos begeisterten Gesichtern; langhaarige Jungfräulichkeit, wie ich sie als Bub in Lakhnau im Bahnhof und bei der längst abgebrochenen eisernen Brücke gesehen hatte. Plötzlich kam einer ins Bild, der offensichtlich blind war – es konnte nicht ‘Aziz sein, dafür war er viel zu jung, ‘Aziz wäre heute über vierzig Jahre alt – doch der blinde Faqir rief mir ‘Aziz in Erinnerung: Was war aus ‘Aziz geworden? Wie hatte ich ihn so lange vergessen können?
Ein paar Wochen versuchte ich mir einzureden, dass ‘Aziz wahrscheinlich längst tot sei oder, wenn er noch lebte, sicher in einem der indischen Blindenheime, deren Zahlen ich jedes Jahr erhielt, leidlich versorgt würde. Während ich mich im Büro mühte, Kurzfassungen von langen Berichten zu lesen, verfolgte mich mein Bruder; ich schwankte zwischen dem in der WHO üblichen — Verzeihung — "shit happens"[52]-Fatalismus und der praktischen allindischen Überzeugung, dass jeder, insbesondere der Arme, Schwache, Kranke, Verkrüppelte, für sein "karma"[53] selbst verantwortlich ist; doch mir schien, dass es mehr mein "qismat"[54] war, an ihm gefehlt zu haben, als sein Schicksal, von mir gehasst und vergessen zu werden. ‘Aziz liess sich nicht abschütteln, und die scheinbar einfachste Lösung, nämlich nach Indien zu fliegen und ihn zu suchen, konnte keine Lösung sein, denn was, wenn ich ihn nicht fand? Wie lange sollte ich suchen, bevor ich aufgab?
Ein unglücklicher Zufall erleichterte mir die Entscheidung: Ich erhielt ein Telegramm von Cousin, dass Onkel verschieden sei. Ohne ‘Aziz hätte ich ein Beileidstelegramm geschickt und ein bisschen Geld für die Bestattung, zusätzliches Geld, denn seit Jahren hielt ich Onkels Haushalt mit kleinen Zahlungen über Wasser. Doch nun spiegelte ich Kathy, den Kindern und den Vorgesetzten vor, dass ein wichtiger Todesfall eingetreten sei, und für die Beerdigung und die anschliessenden traditionellen religiösen Versammlungen meine Gegenwart unerlässlich sei.
Ich packte und flog nach Delhi, wo ich dem Range – und vor allem meinem Einfluss bei der Klassierung der Gesundheitseinrichtungen – entsprechend vom Gesundheitsminister persönlich am Flughafen empfangen wurde. Er drückte mir sein tief empfundenes Beileid aus und haute mich auf der Fahrt in die Stadt nach einer Stelle für seinen Sohn an.
Am nächsten Tag flog ich nach Lakhnau, wo mich mit den üblichen unhöflichen Ehren ein Regierungsfahrer abholte, der sich von mir sichtlich nichts erhoffte. Da die Zeit drängte, liess ich mich sofort nach Kazmain zu unserem Haus fahren, was ihm bestätigte, dass ich ein unbedeutender Mann war. Er weigerte sich, vor unserem Hause zu warten – es sei zu schmutzig dort –, er werde in Nakhas parkieren, ich solle nach ihm senden, wenn ich ihn brauche.
Tante war gebrochen von Alter und Trauer, Cousin verstimmt, dass ich ihm die teure Spiegelreflexkamera, um die er seit Monaten bettelte, nicht gekauft hatte. Die Beerdigung fand am nächsten Tage statt; kaum war klar, dass die Unkosten bezahlt würden, übernahm einer meiner Schulkollegen aus dem Shia College, nun ein einflussreicher Mowlana[55], die Organisation. Ausser Tante war niemand ernsthaft betroffen, Onkel war ein armer Mann gewesen, seit Jahren von meiner Unterstützung abhängig, ohne Einfluss, Mitbesitzer eines einzigen zerfallenden Hauses, das er teilweise an noch ärmere Familien vermietete, Vater eines einzigen unverheirateten Nichtsnutzes.
Mein Kommen wurde von jedermann als ausserordentliche Pietät gelobt; meinetwegen wurde die Beerdigung von allen Zeitungen Lakhnaus mitgeteilt, jeweils mit einem Bild von mir, meist zusammen mit einer lokalen Grösse.
Ich versuchte etwas über die "nile admi" ausfindig zu machen, denen ‘Aziz sich angeschlossen hatte, doch wo immer ich nach Faqiren fragte, erhielt ich die gleiche Antwort, "pata nahin…", "keine Ahnung".
Im Gästehaus des Gesundheitsministeriums des Staates Uttar Pradesh[56], wo ich wohnte, meinte ein spindeldürrer, alter Diener, der mir das Frühstück servierte, unter der neuen Brücke über den Gomti[57] fänden sich meist am Grabe eines von beiden, von armen Musalman[58] und armen Hindus, verehrten Heiligen ein paar Faqire. Also liess ich mich dorthin fahren.
Tatsächlich sassen da ein paar Faqire mit wirren, weissen Schöpfen unter der Brücke. Fünfrupiennoten brachten sie zum Sprechen. Ihr üblicher Hochmut — die Majestät dessen, der (ausser Haschisch und ein paar Brocken Essen) nichts braucht —, faule Zähne und die unzähligen Chillums[59], die sie geraucht hatten, machten es schwer, ihr Halb-Hindi[60], Halb-Punjabi[61] zu verstehen. Doch war die Mühsal nicht ganz umsonst, denn einer von ihnen behauptete, dass am nächsten Vollmond nahe einer kleinen Stadt namens Ghulamabad ein ‘Urs der "nile admi" stattfinden würde.
Vom Gästehaus aus liess ich beim für mich zuständigen Special Branch[62] Officer anfragen, ob dieses ‘Urs tatsächlich stattfinde, und da dies bestätigt wurde, beschloss ich, nach Ghulamabad zu fahren, um wenigstens nichts zu unterlassen, was zu tun möglich war.
Es war eine lange, mühsame und zu meinem Ärger gefährliche Fahrt durch strömenden Regen, die mir Zeit liess, mir auszudenken, was wäre, falls ich ‘Aziz fände; ich merkte, dass ich mir immer noch den Buben vorstellte, der uns damals ins Gerede gebracht hatte, nicht einen Mann von vierzig Jahren und schon gar nicht einen Faqir, der jahrelang unter Pipalbäumen[63] und in Vorhöfen von Moscheen geschlafen hatte. Wenn ich versuchte, ihn mir in seinem heutigen Alter vorzustellen, so machte mein Hirn einen gepflegten Sufiguru wie Inayat Khan[64] aus ihm, der sich gerne nach Amerika einladen liesse, den ich mit meinem Erfolg verblüffen und mit meinem Wohlstand beeindrucken könnte. Doch was, wenn er ein bitterer, geistig verkümmerter Bettler geworden wäre, der für mich nur noch Vorwürfe und Hass übrig hätte und für den ich dann doch sorgen müsste bis an sein Lebensende?
Spätabends kamen wir in Ghulamabad[65] an, wo ich in einem Gästehaus dritter Ordnung untergebracht wurde, das sonst wohl nur Polizeiinspektoren und ähnlichen Funktionären diente, die mit Dienern, Bettüchern und Kochtöpfen reisen. Das Haus war kalt und feucht, alle Wände, wo sie nicht gerade einem hohen Gast als Serviette oder Nastuch gedient hatten, waren mit Blutflecken von zerklatschten Moskitos gesprenkelt und das Badezimmer, das ans Schlafzimmer anschloss, schmutzig, als wäre es seit der Unabhängigkeit nie mehr geputzt worden. Mit fünfzig Rupien[66] gelang mir, aus dem Wärter des Gästehauses ein paar verschlissene, nicht sehr saubere und nicht sehr trockene Bettücher und ein löchriges Moskitonetz herauszulocken. Nach einiger Zeit brachte er eine Art Abendessen, ein wässeriges Dal[67] mit schlechtem Reis und groben Chapatis[68] in verkratztem Aluminiumgeschirr — ich war daheim. Dann rieb ich mich reichlich mit Mückenschutzmittel ein und legte mich schlafen.
Am Morgen wollte ich mich zu dem Schrein fahren lassen, wo das ‘Urs stattfinden sollte. Doch des Hochwassers wegen war es nicht möglich, den Fluss mit dem Wagen durch die auf der Karte eingetragene Furt zu überqueren. Ich liess mir aus dem Basar einen Regenschirm und Plastiksandalen bringen, krempelte meine Hosenbeine hoch und ging selbst zu Fuss bis an die stellenweise über die Ufer tretende, hier über hundert Meter breite, reissende, gelbe Ganga. In der zwischen den Wolken durchbrechenden Sonne sah ich auf der anderen Seite einen kleinen, weissen Tempel mit ein paar "pakka"[69]-Häusern und vielen Militärzelten darum herum. Ich glaubte nicht, dass ich dort drüben meinen Bruder finden würde, doch wollte ich gewiss sein, dass er nicht dort war, dass niemand dort war, der wusste, wo er war oder was aus ihm geworden ist.
Ich sandte den Fahrer aus zu rekognoszieren, ob es einen Weg gebe, die Ganga zu überqueren, und er kam mit einem Polizeiwachtmeister, dem höchsten Beamten am Ort, zurück, der mir erklärte, dass es ein paar Kilometer flussaufwärts eine "Bauernbrücke", eine kleine Hängebrücke gebe, seit Jahren in schlechtem Zustand, sehr reparaturbedürftig, er hätte auch schon dem DSP (District Superintendent of Police)[70] deswegen geschrieben, doch ohne Erfolg, vielleicht, dass ich mich verwenden könnte, in der Regenzeit sei dies die einzige Verbindung, ich hätte im Helikopter kommen sollen…
Ich liess mich, soweit es ging, in die Nähe dieser Brücke fahren. Der Übergang bestand erstens aus einer langen Hängebrücke für Fussgänger mit vier rostigen Drahtseilen, zwei oberen, die als Handläufe dienten, und zwei unteren, an denen Querbretter als Lauffläche befestigt waren. Doch hingen diese Bretter an mehreren Stellen von einem der Seile senkrecht nach unten ins hochgehende Wasser, an anderen fehlten sie ganz, und auch wo die Bretter auf beiden Seiten noch ordentlich auflagen, schienen die Bretter selbst, soweit ich sehen konnte, faul. Diese Hängebrücke ging bis zu einem hausgrossen Felsblock, der ungefähr dreissig Meter vom Ufer entfernt war, von wo aus dann auf kleinere und grössere Felsen gelegte schmale Holzbretter ans jenseitige Ufer führten. Während ich mir diese Konstruktion ansah und der Wachtmeister schwor, dass er keinen Fuss auf diese "Bauernbrücke" setzen würde, "ich habe zwei Kinder, Herr", kam ein junger Mann, ich schätze ein Collegestudent, mit Fahrrad, Regenschirm und Einkaufstasche. Er stieg bei uns ab, grinste uns an, hing sich Fahrrad, Tasche und Schirm um den Leib und überquerte damit die Hängebrücke, wobei er auf einem Kabel lief und sich an den anderen zwei festhielt, ohne sich je den morschen Brettern anzuvertrauen. In weniger als einer Minute war er heil auf dem grossen Felsblock, an dem das jenseitige Ende der Hängebrücke befestigt war, setzte dort das Fahrrad ab, eilte mit der Tasche und dem Regenschirm leichten Fusses über die federnden Bretter zum Ufer hinüber, legte Tasche und Schirm ab, eilte zurück, holte das Fahrrad, trug es über die Bretter, stieg auf und fuhr davon. Ich hätte es ihm gerne gleichgetan, doch traute ich mich nicht — ich habe zwei Kinder — und liess mich ins Gästehaus zurückfahren.
Nach dem Tee ging ich zu Fuss hinaus, um mir die Ortschaft anzuschauen und herauszufinden, wie zum Schrein hinüberzukommen sei. Ghulamabad lässt sich in einer Viertelstunde durchqueren, die Hauptstrasse ist in schlechtem Zustande mit Abschnitten, wo der Belag fehlt, und tiefen, mit gelbem Regenwasser gefüllten Löchern. Offene Läden mit Gemüse, Früchten, Reis, geschmolzener Butter und anderen Lebensmitteln, Stoffen, Eisenwaren, Süssigkeiten, Apotheken, farbigen Glasarmreifen und falschen Frauenzöpfen, Schneidern, die auf Tretmaschinen nähen — was eben zu einem Basar gehört. Ich trank vor einem etwas sauberer aussehenden Teeladen einen Tee und erkundigte mich beim Inhaber nach dem Schrein und dem ‘Urs. "Dieses Jahr kommen viel mehr Faqire als sonst, denn Pir[71] Mian[72] ist todkrank; viele grosse Leute kommen, doch alle müssen über Firozpur fahren, weil wir keine rechte Brücke haben. Wenn wir eine Brücke hätten, wäre jetzt Ghulamabad voll, und wir könnten was verdienen. Doch die Regierung wird uns nicht helfen, was kümmert das die in Lakhnau, ob wir eine Brücke haben…, wenn wir eine Brücke hätten, so ginge ich zusammen mit meinem Haushalt, den Pir ein letztes Mal zu sehen. Kennen Sie den Pir? Die Bauern hier nennen ihn Sayid[73] Baba[74] Jan[75], richtig heisst er Pir Mian, er ist das Oberhaupt der Qalandariya[76], ein vielberühmter Pir. Aus Pakistan, Afghanistan, ja sogar aus Iran kommen Faqire und Anhänger. Er ist blind, doch Gott hat ihm gegeben, in die Herzen der Menschen zu sehen. Sie müssen ihn besuchen, wenn Sie können, selbst ihn nur von weitem zu sehen, macht einen schon glücklich. Minister, Industrielle, sogar Filmstars — Amitabh Baccan[77] soll vorletztes Jahr gekommen sein —, alle besuchen ihn; letzten Monat, als die Furt noch offen war, bin ich dort gewesen, viele Jeeps mit Regierungsleuten, und das war kein ‘Urs, ein normaler Tag – ich bin gläubiger Hindu, ich gehe zweimal pro Woche in den Tempel, jeden Morgen bete ich die Gayatri[78], und Sayid Baba ist ein Muslim —, doch ich sage Ihnen, ich habe nie einen Mann wie ihn gesehen, nur ihn anzuschauen macht einen glücklich…, und er macht keinen Unterschied zwischen Reich/Arm, Gross/Klein, Hindu/Muslim. Nichts, was die Leute ihm schenken, behält er für sich, alles gibt er für die Verköstigung der Pilger und das kleine Spital aus, das zum Schrein gehört; stellen Sie sich vor, bei diesem Wetter, dort drüben hat es bis nach Firozpur[79] kein anderes Spital, keinen anderen Arzt, nichts. Ihn nur schon zu sehen, sogar wenn man bloss an ihn denkt, wird einem schon leichter ums Herz. Sie müssen ihn besuchen, wenn Sie können, Sie werden es nicht bereuen…"
Ich klärte mit dem Wachtmeister ab, wie via Firozpur der Schrein zu erreichen sei. Er glaubte nicht, dass unser alter Ambassador Mark IV[80], ein lächerliches Auto, das in den Vereinigten Staaten als Veteran bestaunt würde, durchkommen könnte. Nach langem Hin und Her erklärte er sich bereit, mich, sofern ich ihm das zusätzlich privat bezahlen würde, am nächsten Tag mit dem Polizeijeep hinzubringen. Dies verdross den mir von der Provinzregierung gestellten Fahrer, der sein Vorrecht verletzt sah, mich zu fahren und die entsprechenden Trinkgelder einzukassieren. Mit je fünfzig Rupien bewog ich ihn, den Polizeiwachtmeister stellvertretend, weil wegkundig, sein eigenes Fahrzeug fahren zu lassen; bezahlen würde ich beide.
Am nächsten Morgen brachen wir vor sieben auf und fuhren via Firozpur zum Schrein. Das war ein Umweg von über hundert Kilometern auf schlechten und immer wieder überschwemmten Strassen. Bis wir beim Schrein ankamen, war Mittag längst vorüber; die letzten Kilometer mussten wir im Schritt fahren, denn auf der nicht geteerten Strasse drängten sich Faqire mit Eisenstöcken vorwärts, Bauernfamilien zu Fuss oder auf Ochsenwagen, Dorfbeamte auf Velos und Motorrädern, aber auch Leute in klimatisierten japanischen Geländewagen oder in Regierungsjeeps. In Sichtweite des Schreins parkierte der Wachtmeister den Jeep zu den anderen Regierungsautos, an deren Standarten ich erkennen konnte, dass auch Mitglieder (oder Familienmitglieder) der Landesregierung anwesend sein mussten. Ich wollte noch mehr herausfinden, doch, kaum ausgestiegen, geriet ich in eine dichte Menschenmenge, die mich zum Schrein mitriss, in den Schrein hinein und zu einer kleinen, offenen Halle, die in Hindi, Urdu mit "langar-e-sayid baba jan"[81] und in Englisch mit "LANGAR OF SYED BABA JAN" angeschrieben war. Geordnet wurde das Treiben von Malangs[82], die, was mich verwunderte, wie Bahnhofsträger grosse Messingschilder auf der Brust trugen, auf denen in Urdu "langar-e-sayid baba jan", "malang nambar"[83] und eine arabische Nummer eingeätzt war.
Ich konnte mich weder vorwärts noch rückwärts bewegen, um mich standen Hunderte von Faqiren, ausgemergelte arme Bauern, beleibte Händler, Offiziere mit ihren Stöcklein, reiche Stadtleute, die mit Videokameras filmten; alle riefen: "baba ki jai – pir ki jai."[84]
Plötzlich ertönte aus grossen Lautsprechern Musik, und die Malangs hiessen die Leute, sich zu setzen. Ein junger Sänger mit einem Mikrofon begann ein Ghazal zu singen:
Stirbt die Nachtigall und mit ihr auch ihr Lied;
oder sterbe ich und mit mir auch mein Leid?
Wie es sich gehört, begannen viele zu schluchzen, dann wurde — die Bauern und Faqire schrien wie besessen: "baba ki jai! pir ki jai!", der Lärm war ohrenbetäubend – aus dem Hintergrund des Schreins auf einer Bahre ein weissgekleideter Mann nach vorne getragen, in dem ich trotz der Jahre, die vergangen waren, sofort meinen Bruder wiedererkannte. Die Masse presste ungestüm auf ihn zu, von den Malangs am Schrein vorbeigelenkt. Es war nur "pir darshan"[85], Pir-Sehen. Langsam kam ich näher: Mein Bruder sah aufgedunsen und krank aus, doch seine Augen waren so schön, so blind, wie sie immer gewesen waren, und auf seinem Gesicht lag ein Glanz, ein Strahlen, als schiene ihm eine andere Sonne, und ein Glück, als stünden ihm die Türen zum Paradies offen.
Plötzlich bewegte er die Hand, seine Umgebung zuckte zusammen, die Menge verstummte, die Malangs befahlen, sich hinzusetzen, einer der Faqire neben meinem Bruder kam die Stufen vom Schrein herunter und sagte laut: "unke bhai ana de do…", "lasst seinen Bruder durch." Ich fühlte, dass er mich erkannte, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, wie das möglich ist. Im Aufstehen beabsichtigte ich noch, ihn als meinen jüngeren Bruder zu begrüssen, doch während der wenigen Schritten, war mir, als verlöre ich das Bewusstsein, Hände halfen mir die Stufen hinauf, ein helles Licht erfüllte mich, und ich sank vor ihm nieder, legte ihm meinen Kopf auf die Knie und stammelte: "maaf kijie bhaya…", "entschuldigen Sie, Bruder, entschuldigen Sie, ich habe grosse Fehler gemacht." Er legte mir seine Hand auf den Kopf, in mir war alles licht, doch hörte ich deutlich seine Stimme: "Wir haben gefehlt, wir lebten überglücklich, Ihr Armer habt unseretwegen viel gelitten. In ein paar Tagen werden wir sterben, nicht weinen, alles ist recht. Augen öffnen und sich ändern. In der Todesstunde sich des Lichts jenseits allen Lichts erinnern. Nun geht, viele Leute warten."
Ich stand auf, ein Faqir ergriff mich am Arm und führte mich ins Innere des Schreines, wo er mir einen Sitz anwies. Er offerierte mir Kaschmirtee[86]. Später am Abend sah ich meinen Bruder noch einmal, doch ohne, dass er mich zu erkennen schien. Medizinisch schien es für jede Hilfe zu spät, ich versuchte auch nicht, meine Hilfe aufzudrängen, denn tatsächlich verfügte der Schrein über ein eigenes kleines Armenspital, in dem ein, wie ich später vernahm, in Deutschland ausgebildeter Arzt arbeitete.
Der Faqir, der sich um mich kümmerte, ein stämmiger Panjabi namens Dilavar[87] Bhai[88], liess mich die nächsten Tage in einem der Gebäude wohnen, die zum Schrein gehörten. Mein Fahrer und der Wachtmeister zerflossen, kaum hatten sie erfahren, dass ich Sayid Baba Jans Bruder war, vor Ehrerbietung. Dilavar Bhai sandte sie nach Ghulamabad zurück, er würde sich selbst um meine Rückreise kümmern. Ich erhielt vorzügliches Essen, ein sauberes Zimmer, es fehlte mir an nichts.
Meinen Bruder sah ich nur in den Stunden, die er im Schrein Darshan gab, das heisst, sichtbar war, wobei er mich nicht wahrzunehmen schien. Dilavar Bhai gab mir eine Kassette "Nur-ala-Nur"[89] mit Vorträgen und Liedern meines Bruders und erklärte mir, dass mein Bruder seit Jahren pro Tag nur ein paarmal kurz aus seinem "samadhi"[90] erwachte. "Der Pir isst", sagte Dilavar Bhai, "ein, zwei Bissen, dann vergisst er wieder alles, was um ihn vorgeht. Wenn wir ihn nicht wie ein kleines Kind pflegen würden, wäre er längst gestorben."
In der dritten Nacht wurde ich von Dilavar Bhai geweckt: "Der Pir ist gestorben, Ihr könnt ihn noch einmal sehen, dann bringe ich Euch nach Ghulamabad." Er führte mich in den Schrein hinüber, wo inmitten von mehr als hundert weinenden Faqiren mein Bruder auf einem niederen Bett lag; noch immer schien ein inneres Licht sein Gesicht zu erleuchten. Ich wollte das Totengebet sprechen, doch sein Licht erfüllte mich, und ich vergass selbst die einfachen, als Kind gelernten Worte, da war nur noch unendlicher, lichterfüllter, samtschwarzer Raum.
Nach einiger Zeit führte mich Dilavar Bhai in mein Zimmer zurück. Er lud sich mein Gepäck auf die Schultern, sagte zu mir: "Kommt!", und leitete mich dann im Dunkeln über Feldwege und kaum fussbreite, vom Regen aufgeweichte Dämme zwischen Reisfeldern; nie habe ich eine Taschenlampe mehr vermisst, es war so dunkel, dass ich kaum Dilavar Bhais Schultern vor mir sehen konnte, bei jedem Schritt fürchtete ich mich, den Fuss abzusetzen, denn, wie es heisst, "trat man nicht auf einen Frosch, dann trat man auf eine Schlange". So erreichten wir Ghulamabad innert, schien mir, einer halben Stunde. Er brachte mich zum Gästehaus, und mehr oder weniger befahl er mir: "Heute morgen werden wir den Pir beerdigen, versucht nicht in den Schrein zu kommen; der Pir gehört uns. Kehrt jetzt zurück nach Amerika. In einem Jahr kommt, wenn Gott will, wieder." Er sprach mit trauriger Stimme, doch schien er sicher zu sein, dass ich zurückkommen müsste, und auch schon zu wissen, wann und warum — der sprichwörtliche Hochmut der Faqire.
Ich kehrte über Lakhnau nach Delhi zurück, wo ich noch ein paar wichtige Kontakte pflegte, und von dort flog ich mit KLM nach New York. Im Duty Free Shop in Amsterdam kaufte ich mir einen Walkman, um die Kassette meines Bruders zu hören. Sie enthält keine spezielle religiöse Doktrin, keine neue Lehre, und die Lieder sind, was in Indien seit jeher gesungen wird, von Mirabai[91] bis zu Doktor Iqbal[92]:
Jahrtausende beweint Narziss sein Unglück,
Nur selten erblickt im Garten ein Sehender das Licht!
Ich tat wieder meine Arbeit, versuchte ein guter Ehemann und Vater zu sein. Ich lebte wie der dritte Qalander im Palast mit den vierzig Türen. Mit allem, was ‘Aziz betraf, ging ich vorsichtig um; ich wollte nicht oder noch nicht, nicht bevor ich bereit war, und dass ich nach einem Jahr nach Ghulamabad zurückkehren würde, war ausgeschlossen. Ich wusste, es gibt mehr als diese meine elende Existenz, doch auch, dass, wenn ich die verbotene Türe öffnete, mein mühsam errungenes amerikanisches Leben verloren wäre — wie wenn in grosser Höhe eine Flugzeugtüre aufgerissen wird, würde alles, woran ich hänge, hinausgesogen in ‘Aziz' Licht.
Kürzlich, an einem kalten, nebligen Novembermorgen — der Nachmittag versprach sonnig zu werden —, habe ich Kathys weissen Cadillac DeVille zum "JAH Tire Shop" gefahren, um Winterreifen aufziehen zu lassen; es sind Rastatypen, doch günstig, und der Service stimmt. Während ich meinen Gratiskaffee trinke, schaue ich zu, wie ein junger Schwarzer mit gigantischer Mütze die Räder demontiert, die Reifen wechselt, auswuchtet, dann die Räder wieder montiert, alles locker und soweit fehlerlos, bis ihm, schon fast fertig, der letzte Raddeckel aus den Händen gleitet und über den Betonboden der grossen Werkstatt rollt mit blechernem Klang.
Der helle Ton bringt mir ‘Aziz Eisenreifen zurück, die staubige, steinige Strasse in Kazmain, mein süsses, blindes Brüderchen und sein kleines Lied.
Auch ein kleines Brücklein ist eine Brücke,
Auch ein kleines Lichtlein ist ein Licht.
Plötzlich verstehe ich Dilavar Bhais traurigen Hochmut. ‘Aziz' Licht erfüllt mich, Tränen stürzen mir in die Augen, ich platze fast vor Lachen — nach Hause zu fahren, fällt schwer, jetzt, wo ich sehe.
[1] Titel, Nachfahre des Propheten (Gott erhöhe ihn und alle aus seinem Geschlechte).
[2] Die führende Muslim-Universität Indiens.
[3] König von Avadh, regierte 1754-1775.
[4] Frühere Hauptstadt Avadhs.
[5] Königreich am Ganges, bekannt für den Reichtum seiner Navabs.
[6] König von Avadh, regierte 1847-56.
[7] Volkstümliche, meist religiöse Lieder.
[8] Die meisten indischen Filme sind eine Art Opern mit Arien und Tänzen, wobei die Lieder von Playbacksängerinnen und –sängern gesungen werden, die fast ebenso populär sind, wie die Filmstars, die sich für die Lieder ihre Stimme ausleihen. Technisch funktioniert es so, dass die Lieder zuerst aufgenommen werden, und die Filmschauspieler bei den Filmaufnahmen dann ihre Lippen synchron zur Tonspur bewegen.
[9] 'Mera Naam Joker,' Film von Raj Kapoor, 1973, Musik von Shankar Jaikishan, mit Lata Mangeshkar der berühmtesten indischen Playbacksängerin, die sich tatsächlich der verwaisten Kinder des Musikers Madan Mohan annahm.
[10] Sanskrit, 'Grüner', ein Name des (Hindu) Gottes Krishna.
[11] Für Shias aus dem Geschlechte des Propheten (Gott erhöhe ihn und alle aus seinem Geschlechte).
[12] 'Mensch', Name für einen Dienerbub.
[13] Urdu 'Advokat Sir'.
[14] Sultan Mhd. Quli Qutb Shah, 1566—1613.
[15] Sholay!, Film von Ramesh Sippy, 1975.
[16] Farang Nakhlavi Benur, zeitgenössisch.
[17] Mir Babar 'Ali 'Anis, 1802—74.
[18] Sharifzadah, Roman von Mirza Mhd. Hadi Ruswa, 1856—1931.
[19] Anand Bakshi, zeitgenössisch.
[20] Zeitgenössische Filmstars.
[21] Arabisch "lieb", Eigenname.
[22] Berühmter blinder indischer Autor.
[23] Berühmte amerikanische Taubblinde.
[24] Hindi "Ein kleines Brücklein".
[25] Irakischer Pilgerort; nach diesem benanntes Quartier von Lakhnau.
[26] Kaschmirisches Quartier von Lakhnau. Mohalla, urdu "Quartier".
[27] Persisch "junge Nachtigall, junger Geliebter".
[28] Persisch "Herzdieb".
[29] Urdu ist reich an "süssen" Ausdrücken, die en détail die sexuellen Praktiken der anderen beschreiben; siehe auch Rudyard Kiplings "Kim".
[30] In Urdu spricht selbst ein kleiner Bub von sich als "wir"; Ältere und Höhere werden mit "Euch" und komplizierten Höflichkeitsformen angesprochen, Jüngere und Niedrigere mit mehreren Stufen grammatikalischer Erniedrigung bis hinunter zum rohsten "du".
[31] Hindi "blaue Männer", volkstümlich für Faqire.
[32] Persisch "arm", Derwisch, Angehöriger eines islamischen Bettelordens.
[33] Arabisch "arm", Derwisch, Angehöriger eines islamischen Bettelordens.
[34] Persisch "Klotz", Wandermönch, Angehöriger eines bestimmten islamischen Ordens.
[35] Hauptstadt des Bundesstaates Uttar Pradesh, frühere Residenz der shiitischen Fürsten von Avadh.
[36] Hauptstadt Indiens, frühere Residenz der sunnitischen moghulischen Kaiser.
[37] Arabisch "der geheiligte Monat", in dem Imam Husains und seine Angehörigen in Karbala getötet wurden. Die Lakhnauer Shias verbringen diesen Monat in tiefer Trauer.
[38] Da Imam Husain und seine Angehörigen von Yazid, einem Sunni, getötet wurden.
[39] Wenn beispielsweise in einer engen Altstadtgasse ein übermütiger Hindu-Hochzeitszug auf einen Shia-Trauerzug stiess.
[40] Nachas heisst die Hauptstrasse, die Alt-Lakhnau von den neueren, östlichen Teilen trennt.
[41] Frankenpalast, eine Faktorei oder Handelsniederlassung aus der vorkolonialen Zeit.
[42] Arabisch "à Dé!".
[43] Politwerbung Indira Gandhis während des Ausnahmezustandes.
[44] Wichtigste islamische Universität Indiens.
[45] Persisch "Vizekönig".
[46] Fürst von Rampur, einem früheren indischen Staat.
[47] Wichtigste indische Jugendorganisation.
[48] Wichtigste Studentenvereinigung in Aligarh.
[49] Wichtigste Organisation der jungen Shias.
[50] Arabisch "Hochzeit", religiöses Fest, das die unio mystica oder Vereinigung der Seele eines verstorbenen Pirs oder Heiligen mit dem Allerhöchsten feiert.
[51] Berühmter indischer Heiliger.
[52] Englisch "Errare humanum est".
[53] Sanskrit "Tat"; die indische Erkenntnis, das wir ausfressen, was wir uns eingebrockt haben.
[54] Persisch "Los", "Schicksal".
[55] Persisch "unser Herr", "Monsignore", ein religiöser Führer der Shias.
[56] Hindi "Nordprovinz".
[57] Fluss, der Lakhnau quert.
[58] Arabischer Plural von Muslim.
[59] Hindi und Persisch "Pfeifenkopf", hier eine primitive Pfeife zum Haschischrauchen.
[60] Hindi ist die indische Nationalsprache.
[61] Panjabi ist die Sprache des Panjab oder Fünfstromlandes, Heimat der Veden.
[62] Lokaler Vertreter der Bundespolizei.
[63] Ficus religiosa, der heilige indische Feigenbaum.
[64] Erfolgreicher zeitgenössischer Sufilehrer.
[65] Städtchen an der oberen Ganga.
[66] Indische Landeswährung.
[67] Gemüse- oder Fleischgericht, das mit Reis oder gebackenen Getreidefladen gegessen wird.
[68] Gebackene Getreidefladen.
[69] Hindi "aus Backsteinen", im Gegensatz zu Lehmbauten.
[70] Einer der höchsten Magistraten eines Districts.
[71] Persisch "alter Mann", Vorsteher eines islamischen Ordens.
[72] Hindi "Herr!".
[73] Arabisch "Prinz", hier Nachfahre Imam Husains.
[74] Persisch "Vater", hier Titel des Vorstehers des Ordens der Qalandar, Syed ‘Aziz' Amtstitel.
[75] Persisch "lieb".
[76] Islamischer Orden von Wandermönchen.
[77] Berühmter indischer Filmschauspieler, Freund Rajiv Gandhis.
[78] Morgengebet der Hindus.
[79] Städtchen am Oberlauf der Ganga.
[80] Austin Cambridge in Indien in Lizenz hergestellt.
[81] Langar, persisch "Anker", Haus der Qalandar.
[82] Malang, persisch "Barfüsser", Qalandar im Dienste eines Schreins.
[83] Urdu "Malang Nummer".
[84] "Vater Heil! Lehrer Heil!"
[85] Sanskrit "Sehen".
[86] Ein süsser, roter Gewürztee.
[87] Persisch "Herzmut", ein Vorname.
[88] Hindi "Bruder".
[89] Persisch "Licht jenseits des Lichtes".
[90] Sanskrit "Konzentration".
[91] Indische Mystikerin und Musikerin.
[92] Pakistanischer Dichter.